Alle Vorstellungen sind ausverkauft, vor dem Opernhaus sieht man Menschen mit dem Schild „Suche Karte!“, und das bei einer Wiederaufnahme, noch dazu eines unbekannten Stücks mit dem seltsamen Titel „Die Nacht vor Weihnachten“! Die Produktion war im Jahr 2021 ein Überraschungserfolg, vorwiegend aber bei der Zunft der Opernkritiker, denn wegen der seinerzeit geltenden Corona-Beschränkungen war die Zuschauerzahl pro Vorstellung auf 200 begrenzt. Eine sehr gelungene DVD-Produktion verschaffte immerhin eine Ahnung von diesem erfrischenden und herzerwärmenden Gesamtkunstwerk aus Musik, Spiel, Tanz und Akrobatik. So spürt man bei dieser Wiederaufnahme im ausverkauften Zuschauerraum eine besondere Stimmung gespannter Erwartung, ob die hymnischen Premierenberichte einer Überprüfung standhalten. Und wieder gelingt ein Abend, der das Publikum bezaubert, erheitert, beeindruckt, bewegt und am Ende restlos begeistert zurückläßt: Bezaubert von der traumhaft schönen Musik, erheitert von den lustvoll ausgespielten komödiantischen Szenen, beeindruckt von dem Einsatz schwindelerregender Akrobatik und bewegt von der Poesie der Ballettszenen. Ja, es gibt tatsächlich klassisches Ballett mit Spitzentanz und Tutu! Die phantasievolle Choreographie von Klevis Elmazaj wirkt dabei zu keinem Zeitpunkt altbacken, hat es aber auch nicht nötig, sich in ihren klassischen Elementen ironisch zu geben, sondern fügt sich organisch in die Inszenierung ein.
Zu verdanken ist dieses wunderbare Weihnachtsgeschenk dem Regisseur Christof Loy. Er hatte, wie er in dem wie immer gut gemachten und informativen Produktionsvideo erzählt, eine Schallplattenaufnahme dieser musikalischen Rarität entdeckt und Feuer gefangen. Das Stück nach einer Erzählung von Nikolai Gogol verwebt Märchen und Mythen der ukrainischen Folklore mit komödiantischen Szenen und überwölbt dies mit einer Liebesgeschichte. Der Schmied Wakula begehrt die schöne Oksana. Die erweist sich als kapriziös und stellt dem Verehrer die Aufgabe, ihr die Schuhe der Zarin als Brautgeschenk zu bringen. Das gelingt ihm schließlich mit Hilfe des Teufels, der ihn durch die Lüfte zum Zarenhof fliegen läßt. Zuvor hatte der Teufel Wakulas Mutter Solocha, einer attraktiven Hexe, die Liebschaften zur gesamten männlichen Dorfprominenz unterhält, vergeblich dabei Hilfe geleistet, die Verbindung des jungen Paares zu vereiteln. Mond und Sterne hatten die beiden dazu bei einem Himmelsritt geraubt, das Dorf so in Finsternis getaucht und obendrein einen Schneesturm entfesselt. Diese märchenhaft verworrene Geschichte wird noch mit Elementen eines heidnischen Mythos zur Wintersonnenwende angereichert, in welchem böse Geister sich einen Kampf mit den Frühlingsgottheiten liefern.
Christof Loy hat in seiner Inszenierung auf Deutungen, Metaebenen oder Aktualisierungen verzichtet, läßt das Stück für sich sprechen und bringt es zum Leuchten. Er präsentiert pralle Tableaus und poetische Bilder. Dabei darf er mit seinen Ausstattern aus dem Vollen schöpfen. Johannes Leiacker hat ein Einheitsbühnenbild entworfen, welches sich als ideale Spielwiese für den funkensprühenden Einfallsreichtum der Regie erweist. Auf einem transparenten Zwischenvorhang wird ein nächtlicher Sternenhimmel mit kosmischer Weiterung gezeigt. Der raffiniert schlichte Bühnenkasten erweist sich als dessen Negativ: auf hellem Grund funkeln schwarze Sterne. Je nach Bedarf wird dieser hohe und helle Raum mit wenigen Requisiten ausgestattet. Die Kostüme von Ursula Rezenbrink zitieren dezent ukrainische Tracht, in der Szene am Zarenhof zeigen sie prächtige Barock-Ballkleidung.
Der Clou der Inszenierung ist neben den Ballettelementen der Einsatz von Flugakrobatik. Gleich zu Beginn reiten Hexe und Teufel vom rauchenden Kamin eines Daches aus in den Himmel. Der Flug des Schmieds zum Zarenhof durch die Lüfte vollzieht sich ebenfalls vor den staunenden Augen des Publikums, und auch das Treiben der heidnischen Geister und Gottheiten spielt sich in schwindelerregender Höhe ab. Schon für die bravouröse Flugchoreographie von Tänzern und Sängern an dünnen Drahtseilen (Stuntkoordination von Ran Arthur Braun) lohnt sich ein Besuch der Aufführung.
Die restlos überzeugende Besetzung aus dem Premierenzyklus ist in den tragenden Rollen erneut zu erleben: Mit attraktivem Tenor gibt Georgy Vasiliev wieder den Wakula. Julia Muzychenkos Sopran erweist sich durch seine Verbindung eines klaren, mitunter mädchenhaften Tones mit staunenswerten Kraftreserven erneut als Idealbesetzung für die Oksana, ja man hat den Eindruck, daß sie ihre souveräne Rollenbeherrschung noch gesteigert hat. Mit dunkel abgetöntem, üppigem Mezzo gibt Enkelejda Shkoza die Solocha als reife, aber immer noch verführerische Frau. Andrei Popov ist mit seinem Charaktertenor eine treffliche Besetzung für den Teufel. Mit seiner gleißend hellen Stimme zeigt Peter Marsh den bigotten Geistlichen als scharf umrissene Karikatur. Sebastian Geyer dosiert mit seinem Kavaliersbariton in der Partie des Bürgermeisters den Humor etwas feiner, aber nicht minder wirkungsvoll. Freude bereitet auch wieder Bianca Andrew, die mit ihrem edel timbrierten Mezzo der Zarin Anmut und Noblesse verleiht.
Als Oksanas Vater Tschub ist Inho Jeong neu besetzt, der damit neben dem Rollendebüt auch sein Hausdebüt hinlegt. Der junge südkoreanische Sänger beeindruckt mit seinem saftigen, sonoren und tiefensicheren Baß ebenso wie mit seiner Spiellaune. Neben dem bewährten Thomas Faulkner (Pazjuk) darf auch der weitere Rollen- und Hausdebütant Changdei Park als Panas profundes Baßmaterial präsentieren. Der von Tilman Michael vorbereitete Chor überzeugt erneut mit einem dichten und warmen Klangbild.
Der Frankfurter Studienleiter Takeshi Moriuchi tritt in dieser Aufführungsserie nach der Absage des ursprünglich vorgesehenen Lawrence Foster wieder einmal aus dem Hintergrund und übernimmt die musikalische Leitung. Man hat am Abend der Wiederaufnahme den Eindruck, daß das Orchester ein wenig Zeit braucht, um Tritt zu fassen und an den Klangzauber anzuknüpfen, den im Premierenzyklus der vormalige Generalmusikdirektor Sebastian Weigle heraufbeschworen hatte. Gleich im ersten Akkord patzt das Horn und kämpft dann recht lange und nicht immer erfolgreich mit dem Ansatz. Schließlich aber rundet sich der Gesamtklang, und insbesondere in den Zwischenspielen und Ballettmusiken kann man die Instrumentationskünste des Komponisten bewundern.
Die Wiederaufnahme zeigt, warum diese Produktion einen geradezu legendären Ruf genießt. Glücklich kann sich schätzen, wer sich eine Karte sichern konnte.
Michael Demel, 20. Dezember 2023
Die Nacht vor Weihnachten
Nicolai Rimski-Korsakow
Oper Frankfurt
Wiederaufnahme: 15. Dezember 2023
Premiere: 5. Dezember 2021
Regie: Christof Loy
Dirigat: Takeshi Moriuchi
Frankfurter Opern- und Museumsorchester