Mochte man sich vor dem Konzert noch über die sehr spezielle Kombination solcher Werke wie der emotional hochanspruchsvollen 13. Symphonie von Schostakowitsch, dem intimen „Trisagion“ von Iryna Aleksiychuk und der klangleuchtenden Chorphantasie von Beethoven wundern, so ergab am Ende alles Sinn und „was sich drängte rauh und feindlich, ordnet sich zu Hochgefühl“, wie es in den Worten Christoph Kuffners zur letzten Komposition dieses Abends heißt.
Der Hintergrund zur Schostakowitsch-Symphonie mit dem Beinamen „Babi Jar“ („Hexengrund“) ist ein Massaker der Wehrmacht an 33.000 Juden in der gleichnamigen Schlucht bei Kiew. Zwanzig Jahre nach dem 1941 verübten Verbrechen prangerte der Dichter Jewgenij Jewtuschenko an, daß es kein Mahnmal für die Ermordeten gab; der Schauplatz war eine Müllkippe geworden. Stalin und Chrustschow war das gleichgültig, Juden hatten ohnehin in der Sowjetunion unter massiven Repressionen und einem unverhohlenen Antisemitismus zu leiden.
Aus Jewtuschenkos gedichteter Anklage und vier weiteren Dichtungen des Schriftstellers schuf der erschütterte Schostakowitsch schließlich seine 13. Symphonie. „In der Musik stecken natürlich Referenzen an jüdische Komponisten und jüdische Musik, aber man kann auch Wagner heraushören. Man findet all diese Verweise, aber es war Schostakowitsch, der hier sein eigenes persönliches Statement abgegeben hat, über die Tragödie des Faschismus, des Stalinismus, die Tragödie vom Verlust des Lebens und dem Willen zu Überleben. Das Licht, das die Dunkelheit überwindet“, so der Dirigent John Axelrod über das Werk. Es gibt wohl keinen geeigneteren Sänger für die Wiedergabe dieser Gedichte als Alexander Vinogradov, der Härte, kritische Anklage, bittere Ironie und die Darstellung von Ängsten gleichermaßen wiedergibt. Sein durchdringender Baß ist kraftvoll und wandelbar; Vinogradov könnte auch flüstern, man würde ihn dennoch im letzten Winkel des Großen Saales nicht nur hören, sondern auch verstehen. Der Estnische Nationale Männerchor unter der Leitung von Mikk Üleoja changiert mühelos vom sakralen Duktus zu einer militärischen Wucht. Kent Nagano, der frischgebackene Träger des Bundesverdienstkreuzes (dessen Name übrigens immer falsch betont wird, er heißt „Nágano“) dirigiert das Orchester von Malerischen Dimensionen – und vor allem einer ebensolchen Instrumentierung mit reichem Schlagwerk – gemessen, zuweilen fast pastoral-weihevoll; er dämpft allzu forsches Voranpreschen und setzt dann wieder klare Akzente mit raschen, ausgreifenden Armbewegungen.
Gerade in den ersten beiden Sätzen herrscht, gemäß dem Inhalt, eine aufwühlende Rhythmik, Tutti erzeugen Schauer. Die Szene im Eingangssatz, in der die Ordnungspolizei an das Versteck Anne Franks hämmert, gibt Schostakowitsch mit harten, dissonanten Akkorden wieder, die zugleich das Entsetzen der im Inneren Harrenden beklemmend erlebbar machen.
Vinogradovs deklamatorisches Parlando illustriert im Folgesatz den Witz als derbe, aber treffsichere Kritik an der Obrigkeit und entlarvt die Heuchler. Der dritte Satz mit seinen drohenden Streichern illustriert das harte Leben russischer Frauen, die für ihre Familien arbeiten; synästhetisch wäre dieser Satz in die Farbe Grau gekleidet.
Ängste thematisiert der vierte Satz, getragen von unbehaglichem Trommelgrollen und unruhigem Tempo; das Aufbegehren gegen die Angst thematisiert der Chor mit einer Art Kampflied, das auch Kurt Weill komponiert haben könnte. Im „Karriere“ überschriebenen Finalsatz karikiert der Komponist die Handlanger Stalins und drückt der Symphonie damit auch einen autobiographischen Stempel auf. Versöhnliche, optimistische Dur-Passagen, warme Celesta-Klänge und ein Pizzicato-Tänzchen weisen in hellere Gefilde, die Fuge schafft temporeiche Dynamik. Unfaßbar sanft, wie ein Wiegenlied, klingt das oft so wuchtige, beängstigende und tränenreiche Werk aus. Vor dem begeisterten Beifall hört man sekundenweise keinen Laut vom disziplinierten Publikum. Wenige sind während der Pause gegangen und bringen sich so um einen wunderbaren zweiten Teil des Konzerts. Ganze vier Minuten dauert das „Trisagion“, also das „dreimal Heilige“ von Iryna Aleksiychuk, das die Damen des Harvestehuder Kammerchors, begleitet von Konzertmeister Konradin Seitzer mit sehr zarter Violine, aus dem Raum hinter der Bühne mit größter Demut singen. Dissonanzen werden sofort gelöst, das Ganze erinnert an Gesänge der Ostkirche. Das Licht ist dazu gedämpft, was die intime Innigkeit des Stücks angemessen unterstreicht. Sanft und eindringlich erhebt sich der Ruf um Erbarmen an eine Gottheit, die keine lauten Töne braucht, um angehört zu werden.
Beethovens Phantasie für Klavier, Chor und Orchester wird immer wieder als „kleine Schwester“ seiner 9. Symphonie bezeichnet, aber in ihrer hellorange-leuchtenden Lebensfreude ist sie auch dem 5. Klavierkonzert sehr nahe verwandt.
Martin Helmchen haut die ersten Töne wuchtig in die Tasten und scheint so klanglich eines der idealisierenden Beethoven-Portraits zu malen, das den Komponisten gerne mit energischem, trotzigem Blick zeigt. Kadenzen läßt er kristallklar und mit feinen Triller-Verzierungen perlen; nach raschen Läufen scheint er zuweilen selbst überrascht von der Energie, die aus der Partitur in ihn und in den Flügel fließt.
Die Instrumentengruppen spielen fein austariert und werfen sich das wundervolle, eigentlich sehr naive Thema zu, das sich immer weiterentwickelt und an Dynamik und Klangfarbe zunehmend gewinnt. Es ist eine dieser Kindermelodien, über die sich in Bernard Roses Film „Ludwig van B. – Meine unsterbliche Geliebte“ von 1994 die Familie des Komponisten erst lustig macht, um dann festzustellen, daß es dem Meister stets gelingt, aus dem Einfachsten das Größte zu schaffen.
Beethoven war nicht ganz zufrieden mit den Versen von Christoph Kuffner und tatsächlich hakt es von Reim und Metrum her wenigstens bei „entsteh´n“ auf „Glücklichen“. Die Worte „Nacht und Stürme werden Licht“ können aber für das gesamte Konzert stehen.
Der exakt und energisch singende Chor steckt die angesprochene Holprigkeit weg und wird hochengagiert unterstützt von den Sopranistinnen Elbenita Kajtazi und Narea Son, der Altistin Ida Aldrian, dem Tenor Dovlet Nurgeldiyev, dem Bariton Nicholas Mogg und dem Baß Liam James Karai. Alle haben zwar überschaubare aber glanzvolle Einsätze und bringen das sich immer weiter steigernde Werk äußerst spannungsreich und mit frischem Tempo zu einem strahlenden Finale.
Beim langanhaltenden Schlußapplaus stehen viele auf im Saal – tatsächlich ist man erleichtert, nach der Düsternis der Schlucht von Babi Jar auf glücklichere Zeiten hoffen zu dürfen!
Andreas Ströbl, 21. Februar 2024
6. Philharmonisches Konzert:
Dmitri Schostakowitsch, Symphonie Nr. 13 b-Moll op. 113 „Babi Jar“
Iryna Aleksiychuk, Trisagion für Frauenchor a cappella und Solovioline
Ludwig van Beethoven, Phantasie für Klavier, Chor und Orchester c-Moll op. 80
Elbphilharmonie Hamburg
19. Februar 2024
Baß: Alexander Vinogradov
Violine: Konradin Seitzer
Klavier: Martin Helmchen
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg