Größer könnte der Kontrast nicht sein zu den beiden quirlig-spritzigen Komödien, die am Frankfurter Opernhaus gerade in Neuproduktionen zu erleben sind (Der Postillon von Lonjumeau und Doktor und Apotheker). Wie einen Realitätsschock hat die Intendanz die Wiederaufnahme von Janáčeks trostlos-düsteren Skizzen eines Straflageralltags nach Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus in den Spielplan geworfen. Gleich, ob dies einer bewußten Programmgestaltung folgt oder doch eher der Verfügbarkeit der jeweiligen Beteiligten geschuldet ist, so wirkt diese erstmals 2018 gezeigte Produktion nun zwischen den beiden Lustspielen umso düsterer und härter.

Der Komponist hatte Dostojewskis Vorlage drei Monologe entnommen, in denen Häftlinge von ihren Mordtaten erzählen. Mitgefühl mit den Sträflingen ist nicht beabsichtigt. Allenfalls die Figur eines politischen Gefangenen, der zu Beginn der Oper eingeliefert, mißhandelt und schließlich unverhofft am Ende wieder entlassen wird, bietet einen Ankerpunkt für das Identifikationsbedürfnis des Publikums. Hier setzt die Inszenierung von David Herrmann an. Der politische Gefangene Gorjancikov ist bei ihm ein Journalist aus unserer Gegenwart. Die letzten Takte des Orchestervorspiels zeigen ihn bei der Arbeit am Laptop. Er wird verhaftet und in ein Straflager verschleppt, dessen genaue Verortung Regie und Bühnenbild (Johannes Schütz) vermeiden. Immerhin deuten einige Kostüme (Michaela Barth) an, daß wir uns in Rußland befinden: Der Lagerkommandant etwa trägt eine Uschanka, später taucht ein orthodoxer Pope auf. Das Bühnenbild nutzt die Doppeldrehbühne des Frankfurter Opernhauses, um mit einigem Aufwand eine unwirtliche, trostlose Leere plastisch werden zu lassen. Halbtransparente Wandfragmente wandern wie überdimensionale, weit gespreizte Lamellen vorüber und deuten Räume mehr an, als daß sie diese umgrenzen.

Der Besetzungszettel zeigt, daß diese Wiederaufnahme mehr als eine Pflichtübung ist. Man könnte, wenn dies wegen des Sujets nicht unangemessen klänge, von einer Frankfurter All-Star-Besetzung sprechen. Die zentrale Figur des Gorjancikov wird von Domen Križaj gegeben, einem der herausragenden Ensemblemitglieder der laufenden Saison. Zu Beginn der Spielzeit überzeugte er als Prinz von Homburg, danach übernahm er einige Vorstellungen als Macbeth, gerade erst war er ein vorzüglicher Guercœur. Nun hat er gar nicht allzu viel zu singen, ist aber in den 90 pausenlosen Minuten der Aufführung ununterbrochen auf der Bühne präsent. Als eine der wenigen nicht vom Wahnsinn angefressenen Figuren beglaubigt er Qualen, Verzweiflung und das Aufbäumen des Journalisten Gorjancikov sehr eindrücklich mit seinem kernigen Bariton. Mitunter sind von ihm nur stumme Schreie zu sehen, nicht aber zu hören. Dann schreit und stöhnt das Orchester für ihn, roh, schroff, immer wieder auch schrill. Was der Zuschauer zu sehen bekommt, ist sein Alptraum. Gemeinsam mit ihm durchmißt das Publikum diesen Kreis der Hölle, von dem der Regisseur nicht zu viel versprochen hat, wenn er in ihm einen Widerschein von Dantes Inferno erblickt. Als weiterer Sympathieträger steht ihm Karolina Bengtsson in der Hosenrolle des Aljeja zur Seite, die ihrem runden Sopran anrührende Töne des Mitgefühls abzugewinnen weiß.
Statt der im Libretto vorgesehenen Auspeitschung zu Beginn zertrümmert man dem Gefangenen mit einem Hammer die Knochen beider Hände. Zur Behandlung der Verletzungen wird er auf einer Pritsche festgebunden. Die Figur des Filka Mozorov interpretiert die Regie als Lagerarzt, der gefährlich mit einer Knochensäge herumhantiert, und von dem deswegen zunächst nicht klar ist, ob er den Neuankömmling foltern oder kurieren will. Nebenbei erzählt er die Geschichte des Mordes, dessentwegen er in das Lager gesteckt wurde. Diese Partie ist nun mit Ian Koziara besetzt, der in Frankfurt mit so wichtigen Rollen in Erinnerung ist wie dem Fritz in Schrekers Der ferne Klang und dem Abel in Die ersten Menschen und der ab Mai als neuer Parsifal vorgesehen ist. Hier zeichnet er seine Figur mit seinem heldischen Charaktertenor eindrücklich mit latentem Hang zum hinterhältigen Wahnsinn.

Die zweite Mordgeschichte erzählt erneut Ensemblemitglied AJ Glueckert als Skuratov, auch er inzwischen in lyrisch-heldischen Wagner-Partien etabliert, mit gut fokussiertem Tenor, dem er den Ton verzweifelter Leidenschaft abzugewinnen weiß. Er hatte den Zwangsverlobten seiner großen Liebe Luisa erschossen. Schon sieht man in einem der vorüberziehenden Raumfragmente den Erschossenen tot über einem Eßtisch hängen, während ein emsiger Beamter im Schutzanzug die Spuren des Tatorts sichert.
In der Mitte der Oper hat Janáček zwei kurze Theaterspiele platziert, welche die Häftlinge zur eigenen Belustigung aufführen. In der Frankfurter Produktion geraten sie zu Demonstrationen sinnloser Grausamkeit eines bösartigen Mobs an einem Außenseiter.
Der dritte Teil war in der Premiere ganz auf Johannes Martin Kränzle als Siskov zugeschnitten, der unter anderem wegen dieses Auftritts von den Kollegen der Opernwelt seinerzeit zum „Sänger des Jahres“ gekürt wurde. Hier gibt es in der Wiederaufnahme nun ein Wiedersehen mit dem ehemaligen Ensemblemitglied Michael Nagy, zuletzt in Frankfurt als vorzüglicher Beckmesser in den Meistersingern von Nürnberg engagiert und auch international gerade in Wagnerpartien gefragt. Er macht sich die Figur vollständig zu eigen und schildert eindringlich, dabei zunehmend irrer werdend und sich in eine regelrechte Raserei hineinsteigernd, ebenfalls ein Gewaltverbrechen, den Eifersuchtsmord an seiner Ehefrau. In seiner langen Erzählung nimmt er mit unterschiedlicher Stimmfärbung verschiedene Rollen ein und nutzt die dankbare Vorlage weidlich wie schon Kränzle vor ihm zur Demonstration seiner enormen Fähigkeiten bei der Verbindung von Gesang und Darstellung.

Die zahlreichen weiteren Klein- und Kleinstrollen sind trefflich aus dem Ensemble besetzt. Mit einem feinen, profilierten Auftritt etwa macht der bewährte Michael McCown als fröhlicher Sträfling auf sich aufmerksam. Für jeweils wenige Einwürfe bietet man Iain McNeils Prachtbariton in der Rolle des Kochs (der in einem der seltenen heiteren Momente auf der Bühne zweimal ein Rad schlägt) und Kudaibergen Abildins frischen Tenor als betrunkener Sträfling (hier ein Spurensicherer an einem der Tatorte) auf. Die ausgezeichneten Herren des Chores überzeugen außer mit dichtem und homogenem Klang als Lagerinsassen auch mit der Darstellung menschlicher Brutalität und Bösartigkeit.
Janáčeks Expressionismus erklingt im Orchester unter der Leitung von Robert Jindra roh und unbehauen. Das lange Vorspiel wird vor geschlossenem Vorhang gegeben, so daß man ihm ohne visuelle Ablenkung ausgesetzt ist. Zunächst irritieren Intonationstrübungen der Streicher in den exponierten hohen Lagen, erscheinen die vertrackten Rhythmen nicht immer völlig präzise. Je weiter die Musik voranschreitet, desto weniger fallen diese Schwächen ins Gewicht. Viel entscheidender ist nämlich, daß die Musiker den Charakter der Musik in ihrer farbigen Dichte und rohen Direktheit genau treffen und damit einen der Textvorlage angemessenen Ton finden.

Aus einem Totenhaus ist ein Stück ohne moralische Botschaft, ohne Auflösung, Erlösung gar. Es gibt kein Happy End. Das ausgestellte Leiden des Journalisten Gorjancikov ist so sinnlos wie seine unverdiente Freilassung am Ende. Die Musik zeigt das, indem sie nach einem letzten Aufbäumen einfach abbricht. Das Frankfurter Produktionsteam präpariert daher werkadäquat einfach nur Janáčeks schonungslosen Blick auf die menschliche Grausamkeit und Boshaftigkeit schmerzhaft frei. Es gelingt dem engagiert spielenden und vorzüglich singenden Ensemble, einen immer stärker werdenden Aufmerksamkeitssog zu erzeugen, der das Publikum mit seiner Dichte und Intensität packt und erschüttert. Die dadurch hervorgerufene Beklommenheit wirkt im zunächst langsam und schütter einsetzenden Schlußapplaus nach, der aber schnell anschwillt und angemessen die vielen Einzelleistungen feiert. Nur noch zwei Vorstellungen sind angesetzt, dann verschwindet die Produktion unwiederbringlich aus dem Spielplan. Sieht man sich die Auslastungszahlen an, ist dies nachvollziehbar, aber bedauerlich.
Michael Demel, 19. März 2025
Aus einem Totenhaus
Leoš Janáček
Oper Frankfurt
Aufführung am 16. März 2025
Premiere am 1. April 2018
Inszenierung: David Hermann
Musikalische Leitung: Robert Jindra
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Weitere Termine: 22. und 27. März 2025