Wenn im Kieler Opernhaus die Lichter angehen und die ersten Akkorde von La Cage aux Folles erklingen, liegt plötzlich ein Schimmer in der Luft, der das ganze Haus erfasst. Jerry Hermans Musical über Liebe, Identität und den Mut zur Selbstbehauptung ist kein nostalgisches Relikt der 1980er Jahre. Es ist, in Zeiten gesellschaftlicher Spannungen, ein hochaktueller Kommentar zur Gegenwart.
Ein Familienbild im Rampenlicht
Georges betreibt an der Côte d’Azur ein Travestie-Cabaret; sein Lebenspartner Albin, alias Zaza, ist der laute, liebenswerte und verletzliche Star der Show. Gemeinsam haben sie Georges’ Sohn Jean-Michel großgezogen. Als dieser sich mit der Tochter eines erzkonservativen Politikers verloben will, sollen die schillernden Väter für einen Abend den biederen Schein wahren. Doch die Maskerade hält nicht und aus der Komödie wird ein Plädoyer für Wahrhaftigkeit.
Die Kieler Inszenierung zeigt, wie fein sich Humor und Haltung verweben lassen: Zwischen groteskem Slapstick und tiefem Mitgefühl entsteht ein Abend, der Lachen und Nachdenken gleichermaßen provoziert.

Zwischen Nordlicht und Glitter
In der norddeutschen Kühle entfaltet das Musical eine besondere Wärme: Der Gegensatz zwischen disziplinierter Bürgerlichkeit und exzessiver Lebenslust wird in Bernd Mottls Inszenierung zur Metapher für eine Gesellschaft, die noch immer um ihre Offenheit ringt. Die Szenen im goldenen Käfig, den der Bühnenbildner Friedrich Eggert als zentrales Bild etabliert hat, spiegeln dies eindrücklich: Der Glanz des Metalls verführt, zeigt aber auch die Begrenzung seiner Bewohner. Die Cagelles – prachtvolle Paradiesvögel des Nachtclubs in Kostümen von Frank Lichtenberg – sitzen auf Stangen und Schaukeln, schillernd und kokett. Sie geben gleichzeitig ein Symbol für Freiheit und Schutzraum, für Selbstentfaltung und die Spielräume zwischen Pose und Persönlichkeit ab.
Die Hauptfiguren – Herz des Stücks
Dieses Stück wird seit Jahrzehnten landauf und landab gespielt. Warum sollte man es sich unbedingt in Kiel ansehen, auch wenn man nicht in der Region zu Hause ist? Wegen der einzigartigen Hauptdarsteller:
Michael Müller-Kasztelan als Georges entfaltet sich als geborener Conférencier: charmant, witzig und mit großem schauspielerischem Talent. Seine Stimme überzeugt durch Klarheit, Flexibilität und Ausdrucksstärke, die perfekt zu Georges’ souveränem, ironischem Charakter passt. Mit feinem Spielwitz und gesanglicher Brillanz bildet er einen eleganten Kontrast zu Albin. Jörg Sabrowski als Albin/Zaza brilliert in dieser Doppelrolle: Sein facettenreicher Bass-Bariton unterstreicht die emotionale Tiefe Albins, während er im nächsten Moment die Exzentrik und Lebensfreude der Figur kraftvoll hervorhebt. Sabrowskis Darstellung vereint komödiantisches Talent mit echter Verletzlichkeit und schafft eine Figur, die das Publikum sowohl zum Lachen als auch zum Mitfühlen bewegt. Mit Müller-Kasztelan an seiner Seite entsteht ein Duo, das komödiantisch punktet, emotional berührt und dabei völlig glaubwürdig bleibt.

Nebenrollen und Ensemble
Fausto Israel als Jacob bringt jugendliche Frische und charmanten Schwung, während Konrad Furian als Jean-Michel etwas zurückhaltend wirkt und stimmlich nicht ganz mithalten kann. Lenya Gramß und Henry Nandzik als Anne und Edouard Dindon sowie Ks. Heike Wittlieb als Marie Dindon verleihen den Nebenfiguren Tiefe und komödiantische Stärke. Das Ensemble, darunter Barbara Raunegger, Strato Stavridis, Loreley Rivers, Tobias Stemmer, Julian Quijano, Tayler Davis und die Cagelles – Connor Collins, Yannick Illmer, Tim Grimme, Antoine Banks-Sullivan – überzeugt tänzerisch wie schauspielerisch und ergänzt das Hauptcharaktere glänzend.
Unter der musikalischen Leitung von Chenglin Li entfaltete das Orchester am Premierenabend präzise Dynamik und liebevolle Detailarbeit. Christoph Jonas choreografierte elegante, expressive Bewegungen und Connor Collins als Dance Captain leitete das Ensemble mit Eleganz durch die Tanznummern.
Zeitgenössische Relevanz
2025 wird heftig gerungen: Queere Bildungsarbeit, das Selbstbestimmungsgesetz, die Sichtbarkeit von Drag-Kultur – all das zeigt, dass Toleranz kein Selbstläufer ist. „La Cage aux Folles“ hält in diesem Klima den Spiegel hoch. Das Musical funkelt, hat aber einen ernsten Kern: Es geht um Menschlichkeit, darum, dass Liebe sich nicht normieren lässt und Familien vielfältiger sind, als politische Programme oder Stammtischparolen behaupten.
Am selben Abend wurde in Leipzig Rammstein-Sänger Till Lindemann von rund 200 Demonstrierenden kritisiert. Ihm werden in der Vergangenheit Übergriffe vorgeworfen, auch wenn sämtliche Ermittlungen ohne Verurteilung eingestellt wurden. Lindemanns provokante Auftritte zeigen, wie aktuell das Thema bleibt: Die Spannung zwischen individueller Freiheit, Selbstentfaltung und gesellschaftlicher Norm betrifft längst nicht nur die queere Szene, sondern ist allgegenwärtig.

Fazit
Die Kieler Neuproduktion von La Cage aux Folles kombiniert Humor und visuelle Opulenz, ohne die Figuren zu übergehen. Das Ensemble singt, tanzt und spielt präzise, doch im Zentrum steht das Paar Georges/Albin – keine Idealprojektion, sondern zwei Menschen, die ihre Beziehung zwischen Stolz, Verletzlichkeit und Selbstbehauptung navigieren. In einer Zeit, in der Akzeptanz täglich neu ausgehandelt wird, macht das Musical klar: Hinter Glamour und Glitzer steckt die ungemütliche Realität von Menschlichkeit und gesellschaftlicher Sichtbarkeit.
Marc Rohde, 26. Oktober 2025
La Cage aux Folles
Musical von Jerry Herman nach dem Buch von Harvey Fierstein
Theater Kiel
Premiere am 25. Oktober 2025
Regie: Bernd Mottl
Musikalische Leitung: Chenglin Li
Philharmonisches Orchester Kiel