München: „Anna Karenina“

Zunächst mal, in Richtung Literaturwissenschaftler gestellt, eine Grundfrage, die, glaube ich, nicht oft gestellt wird, weil sich die Antwort, in Richtung Balletomane gesprochen, von selbst zu verstehen scheint: Macht es Sinn, ist es gar legitim, so etwas wie einen 1000 Seiten umfassenden Russischen Roman gleichsam zu „vertanzen“? Also ein Werk der sprachlich komplexen Literatur zu nehmen, um auf alles zu verzichten, was wie ein Wort aussehen könnte?

Natürlich ist es legitim, gar sinnvoll – denn es ist das Recht des Choreographen (und der Tänzer und Musiker), weil er frei ist, eine differenzierte Worthandlung in SEINE Sprache zu übersetzen, die nicht mit der Sprache der Literatur verwechselt werden darf. Genauer: Vergleiche eines Tanztheaters „nach“ einen literarischen Stoff bedürfen überhaupt nur einer einzigen Legitimation: der Qualität des Tanztheaters selbst. Es ist gerade die Freiheit des Choreographen gegenüber seiner Vorlage, die seine Interpretation begünstigt – und, seien wir ehrlich: Wer kann schon von sich behaupten, dass er Tolstois „Anna Karenina“ kennt? Abgesehen davon, dass schon Tolstois Version der Geschichte des Ehebruchs der Frau aus St. Petersburg und Moskau eine von vielen möglichen Interpretationen war, denn kein Leser muss den Deutungswegen folgen, die der Dichter selbst beschritten hat, als er das Verhältnis zwischen Anna und ihrem Mann und Wronsky und Anna, gar das Verhältnis der Gesellschaft zu Annas „Fehltritt“ beschrieben hat. Der Choreograph Christian Spuck meint, allerdings aus anderen Gründen, dass es die Ferne seiner Umsetzung des Stoffs zum „Original“ sei, die dem Roman Respekt zolle. Vielleicht ist es weniger die Ferne oder die Nähe zum Roman, dem man, wie der Choreograph ganz richtig sagt, per se nicht gerecht werden kann, als die pure Unmöglichkeit, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Also bleiben wir beim Tanztheater.

Die Gesellschaft… sie ist grundlegend in der Interpretation, die der Choreograph Christian Spuck in seiner Tanztheatergeschichte entworfen hat. Uraufgeführt im Jahre 2014 in Zürich, kam das Ballett im Winter 2017 nach München, wo es in einer Serie von ausverkauften Vorstellungen die Zuschauer begeistert. Eine Zuschauerin der Münchner Ballett-Festwoche meinte am Abend, dass sie diese „Anna“ schon achtmal besucht habe. Man versteht’s, denn Spucks Arbeit ist gerade in der Zeichnung des Verhältnisses von Balletcorps und Solisten glänzend. Hier kommt der Tanz dem Roman auf eine Weise nah, wie sie sich Tolstoi kaum hätte vorstellen können, obwohl sein Zeitalter die Epoche der großen russischen Ballette war. Im Gegensatz und im Ineinander von Kollektiv und Individuum kommt das Drama der Anna Karenina auf den gesellschaftlichen Punkt. Daher gelingen nicht allein die Pas de deux‘ mit Wronsky oder Karenin ganz wunderbar. Ein Höhepunkt ist bereits die Ballszene, in der sich vor der Folie einiger anonymer Tanzpaare die amour fou ankündigt. Spuck hat für diese Szene eine Musik ausgewählt, die nicht zufällig an Ravels „La Valse“ erinnert, dieser Apotheose einer sterbenden und sich in den Abgrund tanzenden High Society. Mit dem zweiten Stück aus Sergej Rachmaninows „Sinfonischen Tänzen“ op. 45 hat er die ideale Klangfläche für die schlichtweg faszinierende Gleichzeitigkeit von Gesellschaftstanz und persönlichem Drama gefunden: einem Drama, in das auch die Krisen Katjas und Kostjas, Daschas und Stepans (wie die Figuren in Armin Petras‘ kongenialer Theaterfassung heißen) eingebunden sind. Spuck inszenierte mit seinen namenlosen Ballpaaren hinreißende Hebe- und Schwebefiguren, deren Schwung so schön wie – im Licht der Geschichte, die sich gerade auf der Vorderbühne anbahnt – verzweifelt anmutet. Grandios: die drei Paare, unter ihnen Prisca Zeisel als Fürstin Betsy und Dustin Klein als ihr Begleiter, die das Ball-Bild bildmächtig und synchron mit wahren Schausprüngen und -hebungen beschließen. Chapeau!

Anna ist an diesem Abend Ksenia Ryzhkova. Sie tanzt Anna auf klassischer Spitze, hiermit als glühende und doch fast immer (außer im ersten Teil des Italien-Bildes; da ist sie ganz mädchenhaft) von der Melancholie beseelte junge Frau. Kein Wunder: Wir kennen ihre Geschichte seit dem Aufziehen des Vorhangs, in der die schwarze Gesellschaft der Protagonisten im dunklen, hohen Raum dieser Tanzfassung sich still und deutlich von der Traviata des russischen Romans distanziert, und in der man bereits den Sound des Todes hört. Die Geräusche des fahrenden Zugs, unter den sich Anna zuletzt stürzen wird, rattern mit schöner Rhythmik in den Endbahnhof Liebe und Tod. Ein absoluter Höhepunkt dieser Interpretation, die Annas Überlegungen über die Unmöglichkeit der Zusammenlebens zu dritt in einer hinreißenden Szene zeigt: der Pas de trois der bleichen kranken Frau mit Wronsky und Karenin. Halb ziehen sie sie, halb lässt sie sich ziehen, die von den Männern getragen und zugleich zerrissen wird. Matthew Golding ist ein starker, erwartbar juveniler Wronsky, der schon bald von des Gedankens Blässe angekränkelt ist, er ist weniger ein Schatten als eine oberflächliche Persönlichkeit. Karenin ist dagegen ein stärkerer Erik Murzagaliyev, ein Ernst zu nehmendes Mannsbild, das von Gewalt, Leidenschaft und Trauer besessen wird. Sein so brutaler wie verzweifelter Pas de deux mit Anna gerät zu einem der Höhepunkte der Aufführung, die keine Tiefen aufweist, weil die Dramaturgie der Geschichte sowohl musikalisch als auch szenisch spannungsreich verläuft. Sie bietet jedem Ballettfreund etwas: dem eher klassisch orientierten eine Version mit der Musik Rachmaninows, die gleichsam „schön“ ist und an den „richtigen“ Stellen die „richtige“ Musik bringt. Dass sich Anna und Wronsky in Italien zu den zärtlichen Klängen des 2. Satzes des 2. Klavierkonzerts lieben, ist so naheliegend wie die sichtbare, immerzu im Hintergrund verharrende Erinnerung an die Wirklichkeit: den Ehemann, das Kind, die Gräfin Lidija Iwanowna, die gerade auf das Kind aufpasst. Dass Anna und Wronsky beim orgiastischen 3. Satz zum ersten Mal Sex haben, ist passend, die Dramaturgie aber setzt auf schöne Brüche, denn es gibt kein richtiges Leben im falschen: auf die „Romantik“ folgt die Desillusionierung, die Sexszene endet nicht in Rachmaninows Süffigkeit, sondern in Witold Lutoslawskis Dissonanzen. Der Russe des späten 19. und der Pole des 20. Jahrhunderts machen die Hauptmusik zum Drama, das zwischen Hollywood und Strindberg changiert. Hinzugefügt einige tieftraurige, im Onegin-Ton geschriebene Lieder Rachmaninows, die von Helena Zubanovich – sehr schön und graugewandet am Rand schräg stehend oder sitzend – bewegend gesungen werden: zunächst als Kommentar zur Liebesgeschichte des kuriosen, traurigen Kostja, der verschlungen um sich selbst herumtanzt, dann als Abgesang auf die lebensmüde Anna. Man versteht kein Wort, aber man versteht alles.

Anmerkung: Das Foto rechts zeigt NICHT den erwähnten Javier Amo.

Gibt es auch „Lustiges“ in dieser Aufführung? Gewiss – etwa die Mauerschau des Pferderennens, auf dem Wronsky stürzt und Anna sich vor der feinen Gesellschaft als Geliebte des Stürzenden outet. Wer hier nicht an „My fair Lady“ denkt, hat etwas verpasst.

Schließlich das Verhältnis zwischen Stepan und seiner Frau Dascha: ihr Lebenselixier ist Streit. Sie (Ivy Amista) liebt das spitze Ausschlagen, er (Javier Amo) die Dienstmädchen, denen er gern und schnell unter den Rock greift – doch auch sie finden sich in einem traurig vitalen Pas de deux zusammen: eine Liebe mit Widerständen, eine unauflösbare Spannung. Mit einem Wort: Stark.

Stark agierte auch das von Robertas Šervenikas geleitete Orchester der Bayerischen Staatsoper, das mit Rachmaninow und Lutoslawski das reichhaltige Corps der Ball- und Hochzeitsgäste, der „Landmänner“ (mit dem verantwortungsvollen Gutsbesitzer Kostja) und der Salonbesucher begleitete. Einfach spitze, diese Anna – weil wir zugleich ein Gesellschaftsballett und eine psychologische Studie, ein von Emma Ryott ausgestattetes Kostümfest und eine spannende Dreiergeschichte sahen, die das klassische Handlungsballett auch mit den Mitteln des modernen Tanztheaters erzählte. Meine persönliche Lieblingshebung ist übrigens Folgende: Der Herr steht hinter der Dame und greift ihr unter die Arme, indem er seine Arme anwinkelt, während die Dame ihrerseits ihre Arme vom Körper wegstreckt. Es war mehrmals zu beobachten. Und nicht in Tolstois Worte übersetzbar.

Frank Piontek, 24.4.2018

Fotos: © Wilfried Hösl