Bregenz: „Nerone“

Arrigo Boito

Nero: Der sensible Bösewicht

Arrigo Boitos unvollendete Oper neu aufgeführt in Bregenz

Durch die übermächtige Klangglocke tief ins Fauteuil des Festspielhauses gedrängt, durch die Wucht der vielstimmigen Chöre (in Mailand bei der Premiere am 1. Mai 1924 waren es 700 Sänger) etwas benommen, kann man diesen musikalischen Tsunami oft nur durch das Schliessen der Augen einigermassen überleben. Doch wenn man diese wieder öffnet schaut man fassungslos auf die Bühne. Was bitte wird denn dort nur gespielt und wer genau nimmt nun daran teil ? Das Allround-Genie Arrigo Boito; Komponist, Librettist ,Schriftsteller, Poet, Übersetzer, Freiheitskämpfer und Senator der italienischen Republik und hat für sein Gesamtkunstwerk keine lineare Handlung vorgesehen, sondern zeigt Szenen aus dem ‚Nero‘-nischen Universum: Ein Sittengemälde geprägt durch Mutter-, Bruder- und Gattenmord,, die Ausbreitung der Christen im römischen Imperium und deren sadistischer Verfolgung. Es zeigt diverse konkurrierende Religionen, Konkurrenzgerangel von deren Vertretern, härteste politische Machtkämpfe, sowie hinterhältigste Intrigen. Ein buntes Kaleidoskop menschlicher Gemeinheiten. Und dazu kommt natürlich der berühmte Brand von Rom, den Nero befohlen haben soll um Inspiration für seine Gesänge zu haben. Doch Autor Arrigo Boito sieht Nero komplexer, nicht einfach als Bösewicht, sondern hin-und hergerissen zwischen Gut und Böse, seinen Neigungen und Pflichten, und spricht ihn erstmal vom Muttermord und der Brandstiftung frei. Ganz im Einklang mit der heutigen Nero-Forschung. Boito zeigt Nero nicht nur als grausamen, ja sadistischen, egozentrischen Kaiser mit absolutem Machtanspruch, sondern auch als weichen, musischen Menschen, beeinflussbar vor allem durch die Frauen in seinem Leben wie seine machtgierige Mutter Agrippina und seine zweite Frau Poppea. Doch seine Regentschaft begann mit durchaus volksbezogenen politischen Ansätzen.

Denn dies war Nero’s Hintergrund und Werdegang:

Römische Kaiser konnten nur die Nachkommen von Augustus werden. Neros Mutter, Agrippina, war eine Urenkelin Octavians .

Doch Nero bekam als Kind keine Erziehung, die ihn zum römischen Kaiser formte. Durch die Verbannung seiner Mutter, die ihren Bruder Tiberius von Thron stossen wollte, erzog ihn eine Tante und deren Vertraute; ein Barbier und ein Schauspieler. Diese weckten im Kind die Neigung zu Künsten wie Musik, Gesang, und Schauspiel; ganz unrömische Vorlieben, die von der Nobiltà damals verachtet wurden. Echte Römer, speziell die Adligen, interessierten sich nur für Dinge, die das Reich und die Macht Roms vergrösserten; also militärische Tugenden und politische Strategien. Neros Beschäftigungen galten bei seiner Schicht als Sklavenvorlieben. Nach ihrer Verbannung organisierte Agrippina den Philosophen und Schriftsteller Seneca als Nero’s Lehrer. Eine illuminierte Wahl, doch Senecas Visionen fielen bei Nero auf fruchtbaren Boden und brachten ihn bei der Führungsklasse auch wieder in Schwierigkeiten. So ersuchte er als Kaiser ein Gesetz ausser Kraft zu setzen, das vorsah, dass alle Sklaven eines Haushalts getötet werden mussten falls einer von ihnen seinem Herrn böse wollte. Im speziellen Fall wollte Nero die Leben von 600 Menschen retten. Doch unter dem Druck des Senats musste er diese Reform zurückziehen; wie später andere auch. So verlegte er sich immer mehr auf seine Vorlieben, die ihn in seinen Kreisen lächerlich machten. Ausserdem wurde er von seiner Mutter manipuliert, die selbst Kaiser sein wollte und dazu ein Netzwerk von besten Verbindungen und sowie ein riesiges Vermögen einsetzen konnte.

Beim Volk allerdings erfreute sich Nero grösster Beliebtheit, auch wegen seiner Neigung zu ‚Brot und Spielen’, die sogar seinen Mord an seinem Halbbruder wie den an seiner Mutter überdauerte. Erst als er seine sehr beliebte erste Frau zwingen liess sich die Pulsadern zu öffnen um nach ihr Poppea heiraten zu können reduzierte sich seine Popularität. Poppea, von ähnlichem Charakter wie seine Mutter, manipulierte Nero wie eine Handpuppe während der Zeit ihrer Ehe.

Dieser kaleidoskopartig komplexe Charakter Nero ist bei Boito weniger Handelnder als Beobachter oder Manipulierter. Nicht die Hauptperson der Oper, ausser dass diese als Monumentalgemälde dargestellte Zeit seinen Namen trägt. Wenn schon, dann müsste man Simon Mago, eine Jago- ähnliche Gestalt, Neros Einflüsterer und Manipulator, als Bösewicht sehen. Mago, ein Agnostiker, versucht Nero, geschwächt durch Gewissensbisse nach dem Mord an seiner Mutter, die Macht abzujagen. Er erliegt schliesslich seinen eigenen Intrigen und wird dazu verurteil sich gleich Phaethon fliegend über das brennende Rom erheben; was er nicht überlebt

Die Oper ‚Nerone‘, musikalisch wie thematisch äusserst kompliziert und vielschichtig angelegt, sollte eigentlich Boitos ‚Lebenswerk‘ werden; ein Gesamtkunstwerk, an dem er 50 Jahre lang arbeitete,

und dann doch unvollendet zurück liess. Er verfasste es nach den Regeln der ‚Scapigliatura‘ (Wuschelkopf), einer nach Freiheit drängenden, revolutionären Intellektuellenbewegung, die sich auch gegen die ‚Nummernoper‘ und bourgeoise Formen wandte. Wahrscheinlich kommt daher das skizzenhafte Libretto ohne Handlungsstrang.

Als musikalische Einflüsse werden immer wieder Beethoven zitiert, wohl für das Komplexe, Richard Wagner für das Rauschhafte, und Hector Berlioz für das allumfassende Klangerlebnis.

Doch der Komponist beherrscht auch die leisen, innigen Töne wie das Duett im letzten Akt zeigt von Christenführer Fanuél -mit Dornenkrone und Petrusstab- gesungen mit Rubria, Vestalin und Christin, die während der Gemetzel im Zirkus Maximus und des Brandes von Rom tödlich verletzt wurde. Hier setzt sich die neue Weltordnung durch während die alte in der Asche versinkt. Diese wird durch Musik in einer anderen Tonart angedeutet. Doch ein Ausblick in diese neue Zeit fehlt der Oper. Vielleicht waren es die noch fehlenden Visionen in der Musik, die Boito hemmten die Oper fertig zu schreiben, denn das Libretto dafür war ja vorhanden.

Die Bregenzer Inszenierung beeindruckt vor allem durch die musikalische Umsetzung durch die Wiener Symphoniker, den Prager Philharmonischen Chor, sowie die elektronischen Einspielungen unter der musikalischen Gesamtleitung von Dirk Kaftan, der darauf hinweist, dass Boito auch musikalisch ‚die diversen Welten nebeneinander stellt, in einer Art Mosaiktechnik, die aber als Ganzes betrachtet eben doch eine Einheit bildet.‘ Klangwelten, wie Regisseur Olivier Tamposi meint, ‚die Seelenzustände ausdrücken‘. Und diese alle mitzuempfinden, speziell die Gegensätze von Höhen und Tiefen, Zartem und Pompösen, Gutem und Grausamen, sind Gründe warum die Rezeption dieser Oper für das Publikum so anstrengend ist. Weitere Anforderungen liegen in der Inszenierung selbst. Sie ist gespickt mit Konnotationen, die nicht leicht ersichtlich sind. Warum nur geht ‚Nero‘-Herausforderer Simon Mago im ersten Akt auf Krücken und hat im zweiten Akt, in seinem Tempel spielend, riesige schwarze Flügel und keine Behinderung mehr ? Der Leichnam der Agrippina in giftgrünem Kleid ist während der ganzen Aufführung präsent, doch manchmal scheint sie zu leben. Nero zieht sich erst ihr Kleid und dann immer wieder den weissen Hermelinmantel an. Will er sein wie sie oder sich mit ihr posthum versöhnen ? Warum zieht sich der Prätorianer, der Agrippinas Leiche immer wieder herumschleppt und jeweils sehr vorsichtig umplaziert auf einmal vor ihr spitternackt aus ? Man fürchtet das Schlimmste. Doch er wendet sich ab und einer Nonne zu, die ihm das christliche Büsserhemd bringt. Woher diese Umkehr ? Ein Adler kommt immer wieder vor. Soll er an den Standarten – Adler der römischen Legionen erinnern, die die ‚Pax Romana‘ auch in entfernteste Regionen bringen ? Allerdings nicht während Neros Regentschaft; da blieb das Reich erstmals innerhalb seiner Grenzen.

Einige offene Fragen konnten wir per Internet in der Pause klären, andere erst zu Hause. Wahrscheinlich wurden etliche Hinweise übersehen, doch die Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit war während der Oper fast völlig von der Musik absorbiert. Erst als die Oper zum zweiten Mal gesehen wurde, konnte man sich auch dem Geschehen auf der Bühne zuwenden. Und dieses war, sowohl bühnentechnisch wie von der Ausstattung her, ästhetisch bemerkenswert. Speziell die immer blutverschmierten Kostüme der Sänger und Darsteller wirkten wie expressive moderne Gemälde (Kostümbildnerin Gesine Völlm). und die Drehbühnen vermitteln subtil ein Voranschreiten des Geschehens (Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann). Als Darsteller und Sänger überzeugten Lucio Gallo, als Simon Mago, als intriganter Vertreter der alten magischen Ordnung mit seinen heidnischen Ritualen, sowie Brett Polegato als Jesus/Paulus Nachkomme Fanuèl und somit Vertreter des erleuchteten, ‚reinen‘ Zeitalters wie auch Svetlana Aksenova als leidenschaftlich in ihren Gott Nero verliebte Asteria und eigentliche Brandstifterin und Alessandra Volpe, als die Vestalin/Christin Rubria . ‚Nero‘ Rafael Rojas bleibt, seiner Rolle angemessen, eher etwas blass.

Dieses vielschichtige, farbige und wuchtige Opernerlebnis hätte es verdient wieder aufgenommen und mehrfach gespielt zu werden. Denn für einen Besuch allein ist es definitiv zu überwältigend.

Hinweis: Sonntag, den 8. August 2021 ORF 3,

21 h 45 Aufzeichnung von ‚Nerone‘

Bilder (c) Karl Forster

Dagmar Wacker, 8.8.2021