Halle: „Nabucco“

Völkerkonflikt im Wohnzimmer

Auf ein Familiendrama reduziert Christian Schuller Verdis NABUCCO in seiner Neuinszenierung an der Oper Halle und lässt dieses in einem von Jens Kilian entworfenen bürgerlichen Wohnzimmer der Jahrhundertwende mit Gründerjahre-Mobiliar und Jugendstil-Tapete beginnen. Eine jüdische Familie mit dem Oberhaupt Zaccaria, seiner Schwester Anna und den Kindern ist in einem überlangen Vorspiel beim Essen an der weiß gedeckten Tafel zu sehen. Unter ihnen auch die als Braut gekleidete Fenena, Nabuccos rechtmäßige Tochter, und ihr Bräutigam Ismaele. Nach diesem stummen Prolog ist noch immer keine Musik zu hören, sondern zunächst ein eingesprochener Text aus dem Buch Jeremia, was der Regisseur bis zum Ende beibehält. Dann endlich beginnt Verdis Oper – doch statt mit der Ouvertüre, die erst nach dem ersten Teil der Handlung gespielt wird, mit dem Eingangschor der Hebräer im von Nabucco belagerten Jerusalem. Der Chor und der Extrachor der Oper Halle (Einstudierung: Jens Petereit) singen ihn vom 1.Rang des Opernhauses klangvoll und mit dramatischem Impuls. Die Familie hört diese Klänge aus dem Rundfunkempfänger – eine von vielen Chiffren der Inszenierung, die an das Geschehen in den 1930er Jahren mit den bedrohten jüdischen Familien erinnern. Da wird der gesamte Besitz Zaccarias von der „Spedition Babylon“ geplündert und abtransportiert, sieht man das Volk, das Kilian allerdings in schwarze Einheitskostüme kleidet, so dass Hebräer und Babylonier nicht zu unterscheiden sind, mit Fluchtkoffern oder sich seiner Schuhe entledigen, was an Deportationen und KZ-Situationen denken lässt.

Oft überraschend sind die vom Regieteam erdachten Schauplätze – nach dem Wohnzimmer, dessen hintere Wand von Abigaille mit effektvollem Aplomb zum Einsturz gebracht wird, öffnet sich der Raum bis zur Brandmauer der Bühne, so dass Nabucco, für den der rote Teppich ausgerollt wird, seinen großen Auftritt hat. Danach sieht man Abigaille im Bett eines eleganten Art-deco-Schlafzimmers nach dem Liebesspiel mit dem halbnackten Hohepriester. Die geöffnete Tür zum Bad gibt den Blick frei auf die Wanne, in der sie sich später den Tod geben wird – ein Bild, das man eher mit dem verordneten Freitod Senecas oder dem Mord an Jean Paul Marat in Verbindung bringt. Noch verwirrender ist die Szene mit Zaccarias Preghiera, die in einem holzgetäfelten Bibliothekssaal von moderner, an das Berliner Grimm-Zentrum erinnernder Architektur spielt, wo die Leviten in hellen Anzügen an ihren Lesetischen von Bibliothekarinnen mit Lesestoff versorgt werden. Nabucco im Golf-Dress wird nach seinem größenwahnsinnigen Anspruch, Gott zu sein, von Damen mit langen Zigarettenspitzen zum Tanz aufgefordert, später im Rollstuhl gefahren, von medizinischem Personal mit Injektionen und auf dem OP-Tisch gar mit einem brutalen Eingriff ins Gehirn malträtiert. Ein schönes Bild der Erinnerung und Sehnsucht öffnet sich beim berühmten Chor „Va, pensiero“ mit einem glutroten Hintergrund, dem Sonnenball und einer Baumgruppen-Silhouette. Zaccaria, der in seinem schwarzen Mantel mit Pelzkragen und dem Zylinder verblüffend an Verdi selbst erinnert, verteilt an sein klagendes Volk Bücher und ermahnt sie zur Zuversicht. Mit seiner Prophezeiung vom Untergang Babylons wird er Recht behalten, denn der vom Wahnsinn geheilte Nabucco schenkt den Hebräern die Freiheit, bekennt sich zu ihrem Gott und vereint Fenena mit Ismele. Am Ende der Aufführung schließt „der Komponist“ den roten Theatervorhang und entlässt die Zuschauer mit ihren offenen Fragen in die Nacht.

Musikalisch ist die Aufführung ein würdiger Beitrag zum Verdi-Jahr. Die anspruchsvollen Partien des Werkes fast ausnahmslos aus dem Ensemble besetzen zu können, spricht für den hohen Leistungsstand des Hauses. Mit dem gastierenden Bariton Kwang-Keun Lee in der Titelrolle hatte das Besetzungsbüro einen Glücksgriff getan. Der Koreaner singt sie mit markantem Timbre, schöner Kantilene und dramatischem Impetus. Besonders eindrucksvoll seine letzte Arie („Dio di Giuda“), die er in strömendem Fluss, ungemein expressiver Ausdeutung und sehr differenzierter Tongebung vorträgt. Mit der gefürchteten Partie der Abigaille hat die Assoluta des Ensembles, Romelia Lichtenstein, eine weitere Trumpfkarte im Repertoire. Im langen schwarzen Rock, roter Jacke, Sonnenbrille und Reitpeitsche hat sie einen autoritären Auftritt, zu dem der dramatische Furor ihres ersten Rezitativs „Prode guerrier!“ perfekt korrespondiert. Schlägt sie hier einen höhnischen Ton an, hört man im folgenden Terzett „Io t’amava“ auch sehnsuchtsvoll-innige Töne. Ähnlich vielfältig gestaltet ist die große Szene „ Ben io t’invenni/Anch’io dischiuso/Salgo già del trono“, wo ihr stimmliches Spektrum vom furiosen Rezitativ mit üppiger Tiefe über die Kavatine von lyrischer Empfindung bis zur Cabaletta mit souveräner Koloratur und fulminanter Attacke reicht. Ähnlich wirkungsvoll der zynisch-lauernde Tonfall im Duett mit Nabucco und die brillanten Spitzentöne in den Ensembles – eine Glanzleistung der Sopranistin, die gegen eine Indisposition ankämpfen musste und diese in bewunderungswürdiger Manier besiegte. Ki-Hyun Park singt den Zaccaria mit der vokalen Autorität seines kraftvollen Basses, der anfangs recht stark vibriert und in der Extremtiefe zuweilen brüchig klingt. Aber er hat immer wieder schöne Momente und krönt die Cabaletta nach seinem Gebet mit einem imposanten Spitzenton. Sandra Maxheimer ist als Fenena eine blonde Stummfilm-Schönheit mit guttural-strengem, etwas forciertem Mezzo, Xavier Cortes ihr Ismaele mit schmachtendem Tenor, den man sich noch etwas auftrumpfender gewünscht hätte. Christopher O’Connor lässt als Abdallo mit obertonreichem Tenor aufhorchen, Christoph Stegemann gibt den Hohepriester mit smarter Erscheinung und profundem Bass. Andreas Henning dirigiert die Staatskapelle Halle; seine Deutung hat dramatischen Atem und klingendes Melos, nicht immer aber genügend Einfühlungsvermögen in die Sänger. Das Premierenpublikum am 5. 4. 2013 feierte die Mitwirkenden gebührend enthusiastisch.

Bernd Hoppe