Weimar: Warten auf Wunder. Die Gala mit allem, was geht

Vorstellung am 04.10.2020

Um experimentell Musiktheater auch in Pandemiezeiten zu ermöglichen, ging das Nationaltheater Weimar (DNT) neue eigene Wege. Die Gala „Warten auf Wunder“ (Premiere: 26.09.2020) zeigte in fünfzehn Programmpunkten Ausschnitte aus Opern-, Operetten- und Musicalproduktionen der kommenden, dieser und der vergangenen Spielzeiten, vorgetragen durch das Musiktheater-Ensemble des DNT und begleitet durch Yuka Beppu am Flügel, André Kassel am Cembalo und ein Streichquartett bestehend aus Johannes Hupach, Magdalena Krömer, Neasa Ni Bhriain und Astrid Müller.

Schon beim Betreten des Theaterhauses bis zum Platz im Großen Saal musste das Publikum den Mund-Nasen-Schutz aus Hygieneschutzgründen tragen. Im Saal wurden die Sitzabstände genau überwacht.

Schon die Ouvertüre zu “Il barbiere di Siviglia“ von Gioachino Rossini ließ aufhorchen, denn statt Orchesterklängen, ertönte eine Fassung für vier Männerstimmen und eine Frauenstimme, als Sänger-Orchester, sowie Klavier (Yuka Beppu) im Arrangement von Harry Frommermann von den „Comedian Harmonists“. Nach ersten Klängen aus dem Off, wurden mit dem Hochfahren der Bühne die schwarz-weiß gekleideten Interpreten Marko Kürsten, Oliver Kuhn, Frank Blees, Máté Sólyom-Nagy und Marlene Gaßner sichtbar. Die von den Interpreten adaptierte Ouvertüre erklang in perfekter Intonation und durch gestische und mimische Elemente parodistisch an den Comedian Harmonists orientierend, verwandelt in heitere Muse.

Als Entertainer zwischen den Ausschnitten agierte in flapsiger, langatmiger Manier und mit oberflächlichen Phrasen die Pandemiesituation und deren Auswirkungen auf das Theater streifend, der Schweizer Schauspieler, seit 2015/16 Mitglied des Schauspiel-Ensembles des DNT, Nahuel Häfliger. Seine Zwischentexte (Regie: Ioana Petre) standen im konträren Kontrast, ja fast im Bruch, zu den ausgezeichnet und anspruchsvoll musizierten Arien und Chören und unterbrachen stets die mühevoll aufgebaute Stimmung.

Monteverdis „Di misere Regina“ aus „Il ritorno d`Ulisse in patria“ (Premiere am 20. November) interpretierte die seit 2012/13 im Weimarer Ensemble singende Mezzosopranistin Sayaka Shigeshima als Penelope mit warmer, dunkel-timbrierter Stimme szenisch, indem sie singend einem grünen Müllcontainer entstieg und während ihres dramatischen rezitativischen Gesanges mit einer roten voluminösen Decke als einziger Requisite interagierte. Dazu erklang dezente Cembalobegleitung durch André Kassel. Der Übergang zu Richard Strauss` „Schläft sie? Nein, sie weinet – Ach, wir sind es eingewöhnet“ aus „Ariadne auf Naxos“ (Premiere: 07.03.2020), erfolgte plötzlich durch das Zu-Boden-sinken von Shigeshima. Emma Moore als Echo, Marlene Gaßner als Dryade und Heike Porstein als Najade betraten mit Sportmatten die Bühne, auf denen sie im Sportoutfit (Kostüme: Andrea Wöllner) Dehnungsübungen vollführten, wobei Moores Stimme in der Höhe etwas zu schrill wurde. Die brasilianische Sopranistin Camila Ribero-Souza, seit 2018 Ensemblemitglied des DNT, im weißen Spitzenkleid, sang und tanzte in beschwingter Operettenmanier in Oscar Straus` „Macht`s auf die Türen“ aus „Ein Walzertraum“ unter Begleitung von Yuka Beppu am Flügel. Perfekter weinseliger Operettenzauber, in bestechender sängerischer Leistung bis zum Spitzenton und passender mimischer und darstellerischer Untermalung.

Camila Ribero-Souza

Der aus Gießen stammende Tenor Jörn Eichler, seit 2013/14 Ensemblemitglied des DNT, zeigte mit weniger Erfolg seine kompositorische Schaffenskraft. Er interpretierte „Auf Wiedersehen“ aus seinem Stück „Zu guter Letzt“ nach Texten von Wilhelm Busch gemeinsam mit einem Kammerensemble aus vier Musikern (Johannes Huppach – Violine, Magdalena Krömer – Violine, Neasa Ni Bhriain – Viola, Astrid Müller – Violoncello). Das langsame Stück, meist einzig begleitet durch zwei Violinen, sang Eichler in tenoralem Sprechgesang und deutlicher deutscher Diktion. In musikalischer und darstellerischer Hinsicht war es von großer Statik geprägt. Der Gefangenenchor aus Beethovens „Fidelio“, als Hinweis auf das ausklingende Beethovenjahr, in homogenem Wohlklang interpretiert durch zehn Herren vom Opernchor des DNT, betrat mit Zollstöcken die Bühne. Durch die reduzierte Besetzung und das fehlende Orchester wurde der Gefangenenchor in Kammermusik verwandelt. Eine interessante Erfahrung, die allerdings der derzeitigen Pandemiesituation geschuldet ist. Die kleinen Soli übernahmen in ausgezeichneter Interpretation der 1. Tenor des Chores Klaus Wegener und der Solo-Bass Andreas Koch. Durch die dezente Interpretation ohne großen Chor und Orchester wurde die musikalische Faktur mit allen Kompositionsschichten des Stückes deutlich. Der Gesang erklang fast A-capella, jeder Ton war zu hören, wie bei einem Kammerensemble. Die brillante Koloratursopranistin Ylva Sofia Stenberg begeisterte in Leonard Bernsteins „Glitter and be gay“ aus „Candide“ in goldenem Kleid mit schwarzer Federboa auf dem Kopf, durch große stimmliche Ausgeglichenheit, Leichtigkeit in allen Registern und brillant-glitzernde Höhe mit großartiger Bühnenpräsenz. Begleitet wurde sie durch Yuka Beppu am Flügel. Selbst bei bravourösen und schwindelerregenden Koloraturen konnte sie sich im Tanze wiegen, ohne sängerische Einbußen. In Mozarts „La Ci Darem La Mano“ aus „Don Giovanni“ (Premiere: 08.09.2018) agierten Bariton Máté Sólyom-Nagy als Don Giovanni in gelben Kniebundhosen, gelbem Frack und mit langen blonden Locken und Sopranistin Emma Moore als Zerlina, seit 2018/19 Mitglied des Ensembles, in lila Kleid mit Reifrock und mit rosa Haaren und langer Feder auf dem Kopf, begleitet von André Kassel am Cembalo, auf einer kleinen Barockbühne inmitten der Bühne in barocken Kostümen. Bariton Sólyom-Nagy glänzte mit voluminöser, sonorer Bassstimme. Ein sehr homogen gesungenes Duett, szenisch bereichert durch das Spiel mit der Feder, um die gegenseitige Nähe auch mit Abstand andeuten zu können.

Die blaugekleideten Damen und zwei Herren des Opernchores sangen Puccinis „Coro a bocca chiusa“, den berühmten Summchor, aus „Madame Butterfly“, teilweise mit Mundschutz, begleitet von Yuka Beppu am Flügel, in durchsichtigem, reinem Klang in sehr guter Ensembleleistung. Bezüge zur Pandemie waren das angedeutete Anstoßen aus weiter Entfernung als Satire auf die gegenwärtigen Umstände. Marlene Gaßner als Antonias Mutter in schwarzem Kleid, Emma Moore als Antonia mit rosa Perücke und Frank Blees als Mirakel, seit 2007/08 Mitglied des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin, im schwarzen Anzug, sangen Offenbachs „Tod der Antonia“ aus „Hoffmanns Erzählungen“. Moore agierte mit zarter, silbrig-glänzender leichter Stimme in glanzvoller Höhe, Blees überzeugte durch tiefe Kantabilität und sehr gute Diktion und Gaßner mit warmem erdigem Stimmklang. Heike Porstein sang die Arie der Gräfin Almaviva „Dove sono i bei Momenti“ in Mozarts „Le nozze di Figaro“ mit zartem, engelsgleichem himmlischem Gesang im weißen Hosenanzug, es begleiteten Johannes Huppach (Violine), Astrid Müller (Violoncello) und André Kassel (Cembalo). Porstein erzeugte einen schwebenden und leichten Klang, in makelloser Reinheit und Geschmeidigkeit.

Porstein

Die dramatische Sopranistin Camila Ribero-Souza als Elisabeth mit „Dich teure Halle, grüß ich wieder“ aus Wagners „Tannhäuser“ beindruckte in ärmellosem Glitzerkleid mit voluminöser Wagnerstimme und passender Mimik. Wagner erklang ohne Bombast, als zartes Kammerstück, wodurch die Arie einen verwandelten Charakter erhielt. Ribero-Souzas deutsche Diktion ist noch verbesserungswürdig, aber größtenteils gut verständlich. Der koreanische Tenor Taejun Sun mit „Firenze é come un alberto fiorito“ aus Puccinis „Gianni Schicchi“ im schwarzen Frack, glänzte, begleitet von Yuka Beppu am Flügel, in makellosem, durchschlagskräftigem Tenor mit zartem Schmelz und in darstellerischer Interaktion mit Camila Ribero-Souza als Statistin. Máté Sólyom-Nagy im Anzug mit Tressen als Escamillo in Bizets „Carmen“ mit „Toréador, en Garde“ brillierte mit profunder und voluminöser Stimme, stimmlich wie darstellerisch sehr überzeugend. Szenische Interaktion erfolgte durch Camila Ribero-Souza und Taejun Sun, der sich auch im Falsett hören ließ. Der Abschluss mit „Willkommen, Bienvenue, Welcome“ aus Kanders Musical „Cabaret“ unter Mitwirkung fast aller Beteiligten, einschließlich des Moderators, war gesanglich und szenisch ein gelungener Schlusspunkt. Mit dem Zitat „Bei uns ist das Leben wunderschön“ wurde das Publikum unter starkem Applaus und drei Vorhängen in den Abend und damit die Realität entlassen.

Ein überwiegend gelungener Abend mit hervorragenden Leistungen von Heike Porstein, Camila Ribero-Souza, Ylva Stenberg und Taejun Sun.

Bilder (c) Candy Welz

Claudia Behn, 6.10.2020