Essen: „Le Grand Macabre“

Vorstellung am 19.2.15

Über den Versuch eine Nicht-Erzählung zu erzählen

Die Dramaturgie der Regie geht nicht auf

War das schon Teil der Inszenierung? Irgendwie surreal die in die äußerste Ecke des oberen Foyers des Aalto-Musiktheaters Essen verbannten, aufgereihten Stühle zur Einführung. Einen Wandschrank mit Feuerlöscher-Signet im Blick, in gedrängter Enge zur Einführung die Geschichte von Le Grand Macabre hörend, hatte selbst etwas von einer makabren Farce.

Im Saal dann die Umkehrung der Enge. In der ersten Aufführung der Ligeti-Oper Le Grand Macabre nach der Premiere vor einigen Tagen hatten die Opernbesucher viel Platz. Deutlich weniger als die Hälfte der Plätze waren besetzt. Nachdem einige Zuhörer schon während des ersten Bildes gegangen waren, bildeten Publikum und Ensemble, als der Chor im dritten Bild inmitten der Opernbesucher sang, eine quantitativ fast ausgeglichene, paritätische Gemeinschaft.

Die Oper als Kunstform wurde in den Aufbruchs- und Protestjahren nach 1960 in Europa von einer jungen Komponisten-Avantgarde massiv in Frage. Sie galt jenen als Ort bürgerlich konservativer Konventionen, der mit ihren verfestigten Strukturen wie ein Bollwerk dem Aufbruch in neue musikalische Welten im Wege stand. Pierre Boulez‘ imperativische Sentenz: Sprengt die Opernhäuser in die Luft! wurde von Komponisten seiner Generation (der in 1920 Jahren und später Geborenen) als Überzeugung verinnerlicht, dass Opern in der alten Form, wenn überhaupt so nicht mehr komponieren werden könnten.

Naheliegend, dass diese künstlerisch radikale Attitüde auch György Ligetis kompositorischen Arbeiten beeinflusste. Mit dem Orchesterstück Apparations (1960) und Atmosphéres (1961) hatte er schon um 1960 irritierend neutönende Pflöcke in die Landschaft der neuen Musik eingeschlagen. Sein Prinzip der Cluster und Klangflächen formte eine eigene Mikropolyphonie. Mit der Boulez’schen Opernverdammung war für ihn dann auch die Polyphonie der Oper dran.

Als Ligeti in dieser Zeit von der Stockholmer Oper das Angebot erhielt, eine neue Oper zu komponieren, sah er darin eine Möglichkeit, sie musikalisch, dramaturgisch und szenisch neu zu justieren. Allerdings zeigt die Kompositionsgeschichte von Le grand macabre auch, wie er vor seiner ehemals revolutionär emphatischen Pose nach und nach eingeknickt ist. Die surrealistisch aufgeladene Anti-Programmatik verdünnflüssigte sich zu einer Anti-Anti-Groteske mit einem Beigeschmack von L’art pour l’art.

Wie hört und sieht sich das heute an? Mariame Clément versucht im Aalto-Musiktheater Essen mit ihrer Inszenierung von Le Grand Macabre, die der Oper zugrunde liegende Ballade Du grand macabre des flämischen Dramatikers Michel de Ghelderode (von Ligeti verändert und ergänzt) durch narrative Kontextualisierungen mit den Ligeti’schen Musik-Clustern zu verbinden. Die Dramaturgie geht nicht auf, weil der Versuch, eine Nicht-Geschichte als Geschichte zu erzählen, vor der grundsätzlichen Schwierigkeit steht, surrealistischen Wortreihungen einen Sinn, eine Sinnigkeit abzulauschen.

Ligetis ursprüngliche Idee mit Le Grand Macabre, ohne sinngebende Wort-Artikulation Emotionen, Gefühle und Handlungsmotivation auszudrücken, ist zwar in der letztlich gültigen Form von 1997 reduziert worden. Gleichwohl bleibt ein dadaistisches Nicht. Auch wenn, wie viele Inszenierungen überzeugt sind, Le Grand Macabre die Angst vor dem Tod als Farce kolportiert und verlacht, bleibt bei allen assoziativen Bemühungen das Absurde, das Vage, das Offene, das Dekadente, das sich einer Erklärungslogik entzieht.

Von daher wäre es konsequent und hätte eine größere Überzeugungskraft entickelt, wenn der Text-Steinbruch des Librettos dramaturgisch und spielerisch unkommentiert als Collage neben Ligetis mehrstimmig psalmodierenden Klangräume, angereichert mit belcantesken Koloraturketten sowie mit dem Instrumentarium von Alltagsklängen zu belassen. Wo die Inszenierung mit der Dopplung von Spiel und Computerspiel in schrillem Neonlicht und mit Pop-Art-Zitaten der Soft Sculptures von Claes Oldenburg diesen Weg ausprobiert, traut sie dieser Perspektive nicht dauerhaft und durchgängig.

Es wirkt übermäßig angestrengt, dem Ganzen einen Sinn zu geben wenn im zweiten Teil im Fürstentum Breughellland, im soundvielten Jahrhundert die Moritat vom Weltuntergang als politischer Slapstick mit Breughelland-Dollars vorgeführt wird. Hinter atavistischen Maskeraden verstecken sich vor allem selbstgebastelten Identitäten. Angst, Unsicherheit, Sicherheitsbedürfnisse, wie begründet oder unbegründet auch immer, demaskiert Ligetis Mysterien beschwörende Musik allein. Vielleicht sollten Text und Spiel sich als bebilderte Reflexionen zur Musik begnügen?

In den Momenten, wo man sich auf die Musik konzentrierte – und sich nicht von den projizierten Gesangstexten in verzweifelten Suche nach ihrem Sinn ablenken ließ -, eröffnete das engagierte Dirigat von Dima Slobodeniouk immer wieder Klangperspektiven zwischen schriller Redundanz und barockisierenden Toccata-Anklängen. Das muss man nicht mögen; aber harmonikal gestimmte Autohupen, wie in der Ouvertüre zu hören, haben einen musikalischen Charme.

Die Essener Philharmoniker handhabten das ungewohnte Instrumentarium Ligeti like. Während die Solisten spielerische und sängerische Spagate en masse absolvieren mussten, funktionierte der Chor im erwähnten dritten Bild als Angstverstärker mit Publikumskontakt.

Aber das ist für manche offenbar zu kopfig, vielleicht auch zu intellektuell. Vielleicht auch Musik, die ins Leere läuft. Selbst das löckende Anti scheint seine Faszination verloren zu haben. Auch die enthüllenden Erfindungen des Regietheaters verpuffen häufig folgenlos und rühren nur noch ironisierende Szenenapplaus-Beifälligkeiten. Angesichts der auf allen Kanälen in den sozialen Medien zu sehenden erotischen Entgrenzungen haftet dem nackten Zeigen ein sexistisch aufgeladener Manierismus an. Die möglicherweise intendierte, dramaturgische Idee, das eigentlich Nackte durch uneigentliche soft sculpture-Imitate zu ersetzten, generiert aber nur einen manierierten Circulus vitiosus.

Zur Pause konnten hören, wie sich Opern-Abonnenten gegenseitig skeptisch befragten: Geh’n wir oder bleiben wir? Aufmunternd die versichernde Antwort: Wir bleiben bis zum bitteren Ende! Wie bitter das Ende für sie dann war, muss unbeantwortet bleiben.

Peter Rytz 19.02.2015