Berlin: „Blaubart“

Halbherzige Felsenstein-Hommage

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Um Liebe und Tod geht es in fast allen Werken der Opernliteratur – auch Offenbachs Opéra bouffe Barbe-bleue handelt davon. Warum aber mussten Regisseur Stefan Herheim und sein Dramaturg Alexander Meier-Dörzenbach sowie der (ursprünglich vorgesehene) Dirigent Clemens Flick bei ihrer Neuinszenierung an der Komischen Oper Berlin mit dem Titel Blaubart deshalb eine Rahmenhandlung um Eros und Thanathos erfinden und zwei zusätzliche Figuren in das Personal einfügen? Auf der zunächst bis zu den Brandmauern leeren Bühne treten sie unter Blitz und Donner auf – Cupido und Gevatter Tod. Ersterer, der kleinwüchsige Rüdiger Frank, zieht einen gewaltigen Thespiskarren, vom grimmigen Sensenmann im zerlumpten Gehrock und Zylinder auf dem Kutschbock (Wolfgang Häntsch) angetrieben. Es ist die Wanderbühne Varieté Vanitas, die zunächst viel Theaterzauber bietet mit einer romantischen Flusslandschaft als Hintergrundprospekt, flatternden Vöglein und einem putzigen Bären. Auf dieser märchenhaften aufklappbaren Bühne (Christof Hetzer) treten die Personen der Handlung auf – allerdings erst nach einem ausschweifenden Vortrag Cupidos mit Zitaten aus Goethes Faust. Überhaupt gibt es in dieser Fassung eine Überfülle an Anspielungen und Bonmots. Der neue Text scheut vulgäre und drastische Begriffe aus der Fäkalsprache ebenso wenig wie läppische Einfälle. So wird der Titelheld hier „Barte-blau“ genannt, weil: „Das reimt sich auf Frau“.

Die musikalischen Zitate reichen von Smetanas Moldau und Verdis Aida bis zu Wagners Fliegendem Holländer und Siegfried. Auch aus anderen Offenbach-Operetten (Les Brigands, Madame l’archiduc, La Fille du tambourmajor) erklingt Musik. Gänzlich überflüssig sind einige Einschübe im Agit-Prop-Stil, wie die DDR-Nationalhymne und Internationale. Und immer wieder treten Cupido und Gevatter Tod, die das Geschehen aus einer Proszeniumsloge verfolgen, auf, halten Ansprachen, parlieren über den Sinn von heutigen Operettenaufführungen. All das ermüdet, bringt den Spielverlauf zum Stocken und zieht die Aufführung über Gebühr in die Länge.

An Walter Felsensteins legendäre Produktion von 1963, die 30 Jahre lief und 369mal gezeigt wurde, erinnert die Neuinszenierung erstmals beim Auftritt von Blaubart, dessen Kostüm mit Pumphosen und ausgepolstertem Brustpanzer (Esther Bialas) fast eine Kopie der Uniform des Vorgängers darstellt – nur in Blau. Und der Sänger von damals trug wohl auch keinen Stoff-Phallus zwischen den Beinen, an dem der Brautkranz für Prinzessin Hermia aufgehängt werden kann. Bei König Bobèche gibt es ein weiteres Kostüm-Zitat mit dem schwarzen Trikot, Hermelin-Umhang, Krone und Zepter. Allerdings schmücken seinen Körper nicht die goldenen Königslilien, sondern Logos aktueller Großkonzerne: Mercedes, Deutsche Bank, Nike, McDonald. Der königliche Glatzkopf regiert in einem Saal, der dem Berliner Schloss nachempfunden ist. Das macht eine Debatte über Bauskandale in der Hauptstadt, den Palast der Republik und das Humboldt-Forum offenbar unvermeidlich. Die Höflinge bringen Bausteine herbei und fügen sie zum Modell des Stadtschlosses zusammen – Bobèche muss sich für den Schmuck auf der Kuppel entscheiden und wählt nach Türkenhalbmond und Davidstern schließlich doch das Kreuz. Danach endet der 2. Akt in einer geschmacklosen Sex-Orgie an der Rampe.

Noch ärger ist eine ordinäre Szene im 3. Akt, der in ein verfallenes Burggemäuer führt, wo der Alchimist Popolani die fünf Frauen verborgen hält, die er in Blaubarts Auftrag umbringen sollte. In märchenhaft-phantasievollen Kostümen klettern sie aus einer Bodenluke hervor. Nächstes Opfer soll Boulotte sein, die schon Popolanis Gifttrunk genommen hat und dann von seiner Orgasmus-Maschine mit einem Bananen-Dildo der ihr zwischen die Beine gesteckt wird und aufleuchtet, wiederbelebt wird.

Dagegen ist das Schlussbild von anrührender Ernsthaftigkeit, wenn am Ende alle glücklich vereinten Paare im Thespiskarren verschwinden, Cupido aber auf dem Souffleurkasten stirbt und das Cello eine traurige Melodie intoniert. Zunächst triumphiert Gevatter Tod, dann bedeckt er den Toten mit einer Blume und zieht mit seinem Karren davon. Doch er kehrt zurück und erweckt Cupido zu neuem Leben, wie es der Liebe gebührt – ein tröstlicher Ausklang, wenn man auch in einer Operette eher ein schmissiges Finale erwarten würde und kein melancholisches Sinnbild.

Keiner der aktuellen Protagonisten erreichte seinen Vorgänger. Vor allem Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Sänger der Titelrolle enttäuschte mit wenig charaktervollem Tenor und bemühter Höhe. Seinem Vortrag mangelte es an Schärfe, Biss und prägnanter Diktion. So blieb schon sein Auftritts-Couplet ohne Wirkung, in dem er sich zudem in den schnellen Passagen als überfordert erwies. Zu harmlos war auch das Entrée von Sarah Ferede als Boulotte, deren Mezzo in der unteren Lage matt und farblos klang. Darunter litt später auch das tief liegende Couplet als verkleidete Zigeunerin. Die Höhe dagegen ist sehr klangvoll und ausladend, allerdings eher einer Carmen angemessen, wie sie sie auch optisch abgab. Für die Rolle der Bäuerin wünschte man sich deftigere Töne und eine drallere, weniger elegante Erscheinung. Peter Renz machte darstellerisch das Mögliche aus seinem Bobèche, aber den schneidenden, keifenden Tenorklang seines Vorgängers konnte er natürlich nicht erbringen. Auch Christiane Oertel als Königin Clémentine besaß nicht die Aura der früheren Interpretin, wirkte aber stimmlich erholt und solide.

Angemessen besetzt war das junge Paar mit Vera-Lotte Bäcker als Hermia, die mit munterem Soubrettenton ihre Koloraturen wie eine Schwester der Adele zwitscherte. Das Duett mit Saphir (Johannes Dunz als charmanter blonder Rokoko-Kavalier mit klassischem Operettentenor) singt sie überraschend auf Französisch. Als Popolani zeigte Tom Erik Lie einmal mehr sein komisches Talent und war hochpräsent in Stimme und Spiel. Er tritt in Ledermontur und Torero-Anzug auf, parliert mit großem Opernpathos und köstlichem italienischem Akzent. Philipp Meierhöfer ergänzte mit markantem Bariton als Graf Oscar. Mit großer Spielfreude wie stets zeigten sich die Chorsolisten des Hauses (Einstudierung: Jean-Christophe Charron) und überzeugten auch gesanglich. Stefan Soltesz hatte die musikalische Leitung von Clemens Flick übernommen und bot mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin keine einheitliche Interpretation – gelegentlich waren seine Tempi überhetzt und brachten die Sänger in Nöte, dann wieder fehlten ihnen Tempo und Esprit.

Nach 3 1/2 Stunden war das Publikum am 23. 3. 2018 sichtlich erschöpft, nahm die Premiere freundlich auf, doch keineswegs mit dem Enthusiasmus, den man an diesem Haus gewohnt ist. Hier ist Herheims Xerxes-Inszenierung noch in lebendiger Erinnerung – sein Debüt als Operettenregisseur aber ist missglückt.

Bernd Hoppe 27.3.2018