Graz: „Musenkuss“

4. 6. 2020, „Premiere“

Graz startet als erstes Opernhaus in Österreich!

Am 10.März 2020 hatten die Bühnen Graz alle Vorstellungen aufgrund der aktuell getroffenen Maßnahmen der österreichischen Bundesregierung gegen die Ausbreitung des Coronavirus zunächst bis 20.April abgesagt. Diese Absage musste dann verlängert werden: es bleiben alle Veranstaltungen des regulären Spielplans der Oper Graz bis 30. Juni 2020 abgesagt. Und dann plötzlich ein Lichtblick. Am 25. Mai verfügte das zuständige Gesundheitsministerium: Ab 29. Mai 2020 sind Veranstaltungen bis 100 Personen erlaubt.

Und Graz reagierte blitzschnell:

Die Styriarte war wohl der erste Konzertveranstalter in Österreich, der sofort am ersten möglichen Tag ein öffentliches Konzert unter Einhaltung der vorgegebenen Bedingungen ansetzte – siehe dazu das informative 13-Minuten-Video. Über die Veranstaltungen des Festivals Styriarte ab 1. Juli wird noch an anderer Stelle ausführlich zu berichten sein.

Und die Oper Graz ist das erste österreichische Opernhaus, das bereits am 4. Juni wieder startete und im Juni insgesamt 12 Vorstellungen (inklusive Tanz, Liederabenden und Orchester!) im großen Haus anbietet! Der Intendantin Nora Schmid und ihrem engagierten Team ist zu danken, dass nach drei Monaten die Opernfreunde wieder Vorstellungen im prachtvollen Fellner&Helmer-Bau erleben können! Das Grazer Haus verfügt über rund 1200 Sitzplätze. Bei der „Premiere“ nach den Corona-Einschränkungen durften gerade einmal 100 Menschen hinein und es gibt für die Juni-Vorstellungen einen minutiösen Leitfaden für den Opernbesuch, wie man sich zu verhalten hat.

Die Oper Graz schreibt über das Programm: Den Anfang macht der „Musenkuss“, eine Hommage an jene Künstler und mythologischen Wesen, die sich in der prachtvollen Architektur der Oper Graz – dem Zuschauerraum und dem Eisernen Vorhang – wiederfinden. Es war ein klug zusammengestelltes Programm, das als Leitfaden die prächtige Ausstattung des Hauses aus dem Erbauungsjahr 1899 hatte. Da gibt es nicht nur Komponisten- und Dichterportraits und Stuckreliefs mit Apollo und den Musen – beides gut auf der Innenaufnahme oben am Kopf dieser Seite zu sehen -, sondern auch großflächige Deckenmalereien, unter anderem mit Szenen aus Lohengrin und Goethes Faust. Die Intendantin der Oper Graz Nora Schmid nahm in ihrer charmant-eleganten Moderation auf all diese Kunstwerke Bezug – sie bildeten den roten Faden durch den 90-minütigen Abend. Die aufgeführten Werke waren ein buntes Kompendium aus dem Lied- und Opernrepertoire – dargeboten von 14 Sängerinnen und Sängern des Hauses, die von drei Pianisten und einer Harfenistin begleitet wurden.

Den Opernraum gleichsam in den Mittelpunkt das Abends zu stellen, hat absolut Berechtigung, sagte doch Daniel Barenboim, der heute abends im goldenen Saal des Musikvereins in Wien die Wiener Philharmoniker (vor nur 100 Gästen) dirigiert, in einem Interview: Musik existiert im Raum und Musik muss live gespielt sein und live gehört werden. Das bewies der heutige Abend der Grazer Oper eindrucksvoll. Das Publikum genoss es merklich, die Stimmen des vertrauten Ensembles wieder im großen Raum des Opernhauses zu erleben und nicht nur auf Kurzvideos im Internet angewiesen zu sein. Die Oper Graz und ihr Ensemble hatten in der Zeit der Sperre regelmäßig bemühte Kurzvideos vorgestellt – man findet sie alle auf der Facebookseite ! Wieder anders erklingt alles nun im gewohnten Raum! Was an diesem Abend natürlich schmerzlich fehlte, das war der Orchesterklang. Aber selbst die „Zwangslösung“ der Klavierbegleitung hatte ihren Vorzug: man erlebte einerseits, wie subtil und wortdeutlich operngewohnte Stimmen das Liedrepertoire interpretieren, und andererseits wurde niemand zu unnötigem Forcíeren genötigt. Außerdem wurden weder die Sängerinnen und Sänger noch das Publikum von zeitgeistigen Regiekonzepten abgelenkt. Es zählte die stimmliche Ausdruckskraft und die individuelle Bühnenpräsenz. Insgesamt gab es bei allen ein erfreulich hohes Niveau. Im Liedteil stachen die werkgerechten Interpretationen von Mario Lerchenberger, Sieglinde Feldhofer und Beethovens Flohlied als ein Kabinettstück von Wilfried Zelinka hervor – alle ebenso werkgerecht und feinfühlig von Marcus Merkel begleitet. Überraschend auch Lohengrins Brautchor in der von Wagner selbst gesetzten Fassung für Sopran und Klavier – von Eva Maria Schmid mit klarer Stimme vorgetragen.

Den Opernteil eröffnete Tetiana Miyus wahrlich engelgleich mit der a-capella vorgetragenen Stimme von oben aus Don Carlo, bevor dann Neven Crnić als Leporello saftig-kräftige Akzente setzte. Bühnendramatik entstand spontan, als der Orpheus von Anna Brull die Furien in Glucks Meisterwerk besänftigte – stillvoll von Harfe (Ulrike Mattanovich) und von der Orgel aus dem Off begleitet. Pavel Petrov und Dariusz Percak glänzten im berühmten Duett aus den Perlenfischern.

Berührend der Abendsegen aus Hänsel und Gretel mit Sieglinde Feldhofer und Anna Brull und profiliert Wolframs Lied an den Abendstern mit Markus Butter. Die gerade erst aus dem Opernstudio hervorgegangene Mareike Janowski sang beherzt und durchaus respektabel die große Eboli-Szene, bevor Tetiana Miyus, begleitet von der Harfe, mit gebührender Virtuosität und makellos ausgeglichener Stimme die Szene der Corinna aus Rossinis Viaggio a Reims effektvoll gestaltete.

Zum beschwingten Abschluss gab es Richard Heubergers Komm mit mir ins Chambre separée mit Sieglinde Feldhofer und dem hier stimmlich wohl fehlbesetzten, aber gewohnt charmant agierenden Ivan Orescanin, bevor Studienleiter Günter Fruhmann gemeinsam mit dem unvergleichlichen Routinier Maris Skuja und dem aufstrebenden Marcus Merkel an drei Klavieren Mario Lerchenberger und David McShane bei Cole Porters Schlag nach bei Shakespeare begleitete. Ja – auch Shakespeare ist ebenso wie Schiller und Goethe ein Medaillon an der Decke des Grazer Opernhauses gewidmet!

Es war ein anregender Abend – das Publikum reagierte mit viel Applaus und Bravo-Rufen. Bezüglich des Programms für die nächste Saison gibt es eine kluge und gut nachvollziehbare Entscheidung – es wird angekündigt:

Aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus konnte der Spielplan der Oper Graz für die Saison 2020/21 nicht wie geplant Ende April präsentiert werden. Auch hier bedarf es nun einiger Anpassungen, und so wird die Oper Graz das neue Programm voraussichtlich Ende Juni online vorstellen. Um auf eventuelle Änderungen in den gesundheitspolitischen Vorgaben der Bundesregierung reagieren zu können, wird die Oper Graz das OpernSaisonal 2020/21 in gedruckter Form nach dem Sommer präsentieren.

Die Intendanz der Oper Graz beherzigt damit das, was unser geschätzter Chefredakteur vor nicht allzu langer Zeit moniert hatte:

ich bekomme in den letzten Tagen mal wieder die telefonbuchgroßen und fachlexika-umfangreichen Bücher der diversen Opern-Häuser für die neue Saison. Da läuft alles nach dem Motto "same procedure as last year", als wäre nichts gewesen und ab September der Corona-Virus aus der Welt. So planen unsere hochsubventionierten Fachleute in den diversen Opernhäusern die nahe Musiktheater-Zukunft. Aber hallo… wie weltfremd liebe Intendanten ist denn so etwas? Habt Ihr nicht wahrgenommen was heuer immer noch los ist? Denkt Ihr allen Ernstes, daß alles im September wieder so läuft wie bisher? Wo ist der realistische Plan B?

Graz arbeitet offensichtlich intensiv an einem Spielplan 2020/21, der tatsächlich realisierbar ist – wir sind gespannt und werden zum gegeben Zeitpunkt berichten!

Hermann Becke, 5. 6. 2020

Szenenfotos: Oper Graz © Oliver Wolf

Hinweise:


Drei weitere Vorstellungen bis 20.Juni 2020


Zur Architektur und Ausstattung des Opernhauses Graz siehe die Theaterdatenbank mit vielen Fotos

Vielleicht war der Titel Musenkuss auch angeregt von einem Projekt der Salzburger Residenzgalerie im DomQuartier Salzburg anlässlich 100 Jahre Salzburger Festspiele unter dem Titel Der Kuss der Musen-Festspiele göttlicher Inspiration . Diese Ausstellung in Salzburg ist noch bis 10. Jänner 2021 zu sehen