Mit „Orphée aux Enfers“ komponierte Offenbach 1858, in dem Augenblick, als ihm die Pariser Theaterbehörde die Erlaubnis dazu gab, sein erstes abendfüllendes Werk und landete damit nicht nur einen sensationellen Erfolg, er schuf damit auch ein Modell, das Schule machte, und dem er und seine kongenialen Librettisten sich über Jahre treu blieben und damit einen Fundus satirischen Unterhaltungstheaters schufen, das in der Geschichte des Musiktheaters seinesgleichen sucht. Das Werk wurde ein künstlerischer und ein Kassenerfolg. Offenbach konnte sich sogar in einem der nobelsten Kurorte in der Normandie, in Étretat seine Villa „Orphee“ errichten lassen.

Der „Orpheus“ wurde charakteristisch für ihn, seine Opéra bouffe und das Zweite Kaiserreich. Zweihundertsiebenundzwanzig Mal wurde das Stück en suite gespielt. In einer zweiten Serie wurde es für das Kaiserpaar und den Hof im Théatre des Italiens geben. Das Stück war in Paris immer präsent. Bis 1878 gab es die tausendste Vorstellung. Das Werk wurde ein künstlerischer und ein Kassenerfolg für den Komponisten, der diese Mythentravestie als privater Theaterunternehmer immer wieder auf den Spielplan setzte, wenn die Kassen leer waren. Die Aufführungs- und Fassungsgeschichte ist allerding nicht komplexer als bei den anderen sogenannten „Offenbachiaden“, an die der Komponist selbst immer wieder Hand anlegte, um sie jeweiligen Gegebenheiten (praktischen, aber auch solchen des gewandelten Publikumsgeschmacks) anzupassen. Von „Orphée aux Enfers“ existieren zwei Fassungen, die zu Lebzeiten des Komponisten gedruckt wurden. Die sogenannte „kleine“ von 1858, mit der „schlanken“ Orchesterbesetzung seines Theaters, der Bouffes parisiens, und der „großen“ von 1874, für die Offenbach das Werk zur „opéra féerie“ umarbeitete, zur Zauberoper, mit doppelt so viel Musik, neuen Balletten und einer bedeutend größeren Orchesterbesetzung. Während sich im deutschen Sprachraum die kleine Fassung durchsetzte, die von Offenbachs deutschem Verlag Bote & Bock mit einer von Offenbach autorisierten Übersetzung von Ludwig Kalisch verlegt wurde, spielte man in Frankreich ab der Uraufführung der großen Fassung nur noch diese, die von Heugel gedruckt wurde. Im 20. Jahrhundert kam es nach Ablauf des Urheberschutzes zu zahlreichen Bearbeitungen. Im deutschen Sprachraum setzte es sich allmählich durch, beliebte Nummern aus der 1874er Fassung in die 1858er Fassung zu integrieren, wie Frank Harders-Wuthenow erklärte.
Das Erfolgsgeheimnis Offenbachs verriet er zum ersten Mal im „Orpheus“: Parodie der Antike, durch Transposition in die Gegenwart des Zweiten Kaiserreichs, Karikatur der Kunst auf Kothurnen, des Schwulstes der Klassikerbühne, der Sinnwidrigkeiten großer Oper, Ironie, Karikatur, Doppelbödigkeit und Mehrschichtigkeit auch seiner Musik voller Witz und Eleganz. René Leibowitz sprach von „Verkleideter Musik“. Das Stück ist das Paradebeispiel der Offenbachiade“, um nicht zu sagen „Opéra bouffe“, nicht zu verwechseln mit „Operette“. So nannte Offenbach nur Einakter. Er unterschied sehr genau die unterschiedlichen Gattungsbezeichnungen seiner Werke. Dennoch bezeichnet man das Werk in Leipzig wieder einmal als „Operette“, welche Ignoranz! Wie Frank Harders-Wuthenow erklärte: „Wir haben eine optimierte Mischfassung herausgegeben, die die Theater eins zu eins verwenden können, wo sie nur streichen müssen, was sie nicht brauchen. Mit allen Nummern aus der größer instrumentierten Fassung 1874 auf die kleinere Besetzung von 1858 runterinstrumentiert von Jean-Christophe Keck.

Man hört in der Leipziger Neuinszenierung, deren musikalische Leitung Michael Nündel oblag, denn auch viel ungehörte Musik, auch manches Couplet aus der 1874er Fassung, leider wurden die meisten Ballettmusiken gestrichen, das eingefügte Insektenballett wurde allerdings zu einem musikalischen Höhepunkt des Abends, sowohl orchestral als auch tänzerisch. Endlich geriet das Ballett der Musikalischen Komödie (Choreographie Mirko Mahr), das sich ansonsten diskret zurückhielt, einmal außer Rand und Band und tanzte sich um den Verstand. Michael Nündel hatte allerdings mit dem glänzend disponierten Orchester der Musikalischen Komödie ein mitreißendes Feuerwerk entzündet, dem sich niemand, auch das Publikum nicht, entziehen konnte. Überhaupt war der GMD des Hauses ein kompetenter wie temperamentvoller Anwalt Offenbachs und seiner intelligenten Musik voller Zitate, Anspielungen und Parodien. Nündel peitscht das Orchester – bei aufgerautem, differenziertem Klangbild – nur so durch die Partitur, mit irrwitzigen Tempi bei struktureller Transparenz, Gewitztheit und energetischem Drive. Nündel ist ein Glücksfall für Offenbach. Eben das kann man von der Regisseurin Maria Viktoria Linke nicht behaupten. Im Gegenteil, sie hat das Stück verkleinert, verspießert und ins Lächerliche gezogen, indem sie es als party- und slapstickhafte Comedy inszenierte, ohne den für das Verständnis von Offenbachs Mythentravestien unerlässlichen mythischen wie historischen Hintergrund mit zu inszenieren bzw. verständlich zu machen. So schwebt das Stück im luftleeren Raum nichtssagenden, geistlosen Unterhaltungstheaters. Bunte Spielzeughäuschen, eine drehbare (Bühne: Andreas Rainer) Himmelsschale für die Olympier, die ziemlich sexbetont und heutig gekleidet sind (Bühne und Kostüme Annika Lau) und auf Rollern anreisen (teilweise in Flugzeugverschalung). Schafe in Gummianzügen. Handys, natürlich und andres zeitgeistiges Zeug. Eine Unterwelt, die einen perspektivisch verengten Himmels- oder Höllen-Prospekt und eine hohle, große Muschel, als Rückzugsort für Eurydike sowie eine Freitreppe zeigt, eine übergroße Krebsschere, die vom Bühnenhimmel herabhängt, ebenso eine riesige Vogelkralle. Es gibt Anspielungen auf Sprechblasen heutiger Politiker. Ansonsten Kalauer, Blödeleien, Slapsticks. Die Rolle des Hans Styx (Andreas Rainer) wurde gründlich vertan, er schlurfte wie ein zerzauster alter Trottel über die Bühne, schon während der Ouvertüre hantierte er mit dem Staubwedel am Vorhang herum. Die Regie hat einiges verschenkt, was die Musik doch immerhin nahelegt. Vor allem Jupiters grandiose „Fliegen“-Nummer.
Was die nassforsch und als Sängerin unbegabte Öffentliche Meinung (Stephanie Theiß) zu Beginn ihrer ziemlich schnodderigen, ans Peinliche grenzenden Auftritte im Zuschauerraum postulierte: “Hier kann nicht jeder sein bürgerliches Süppchen kochen“ wurde in dieser Inszenierung allerdings Lügen gestraft. Offenbachs „Orpheus“ wurde bürgerlich, um nicht zu sagen kleinbürgerlich verwässert, sodass einem das Lachen verging. Die anspruchslose Masse der Zuschauer amüsiert sich allerdings über jeden noch so faden Witz wie Bolle, je platter der Witz, desto lauter ihr Lachen. Das zeigte sich auch in Leipzigs Operettenhaus wieder einmal.

„Vergnügen und Lachen beginnen in Offenbachs Orpheus in der Unterwelt eigentlich schon mit der Avant-Scene der „Öffentlichen Meinung“, die nach eigener Ankündigung den Chor der Alten auf moderne Weise ersetzt. Vor ihr erzittern nicht nur Orpheus, der sich vom klassischen Barden zum modernen Geiger, Professor des Konservatoriums in Theben gewandelt hat, nicht nur seine ungetreue, in den Honighändler Aristeus, alias Pluto, verliebte Gattin Euridike, die mit Wonne den abenteuerlichen Weg zur Unterwelt antritt, sondern auch die „Unsterblichen“, die Götter des Olymps. Auf Wolken gebettet, im Summchor schnarchend, ruhen sie sich von allzu irdischen Amüsiereskapaden aus, samt ihrem Ober-Gott Jupiter, gegen den sie zu den Klängen der (unter Louis-Napoléon als Aufruhr-Lied verpönten) Marseillaise revoltieren. Und um der Langeweile, dem schlimmsten aller Übel, zu entgehen, ziehen sie mit ihrem stets auf Liebesabenteuer erpichten Götterkönig zur Unterwelt hinab, wo der ständig betrunkene Pluto-Diener Styx Eurydice bewachen soll, aber die Annäherung Jupiters in der Verkleidung einer summenden Fliege nicht verhindern kann. Den Nektar-Rausch des Höllenfestes bei Pluto – Opernparodie und Verherrlichung neuer Lebensfreude in einem — kann nur die „Öffentliche Meinung“ unterbrechen. Vor ihr muss auch der Götter Monarch sich beugen. Wie das Gesetz der Sage es befiehlt, soll Orpheus sein Weib wieder in die Welt der Sterblichen zurückführen, mit der klassischen Bedingung, sich vor Ende der Wanderung nicht nach ihr umzuwenden. Doch aller Vorsorge der „Öffentlichen Meinung“ zum Trotz bleibt Jupiter der Sieger; ihm wird Euridike als Bacchantin in den Olymp folgen. Pluto, der gegen diese Entstellung der Mythologie protestiert, wird mit der Bemerkung abgefertigt: „Unsere Hofbuchdruckerei wird eine neue, verbesserte Auflage herausbringen“, worauf Sterbliche und Unsterbliche sich im Rausch, im bacchantischen Taumel des Höllengalopps vereinen.“ (P. Walter Jacob)
Wie nicht anders zu erwarten, wurde der Höllengalopp, der „Galop infernal“ als Cancan getanzt, was für eine Torheit! Der Höllengalopp ist eine der charakteristischsten, aber auch missbrauchtesten Musiken Offenbachs, „sie wird noch heute dem Publikum als typisch französischer Cancan vorgegaukelt“ (Peter Hawig). Dabei ist Offenbachs Tanz (er hat niemals Cancans komponiert) weit entfernt von dem Moulin-Rouge-Gekreische jener Touristen bespassenden, strumpfbandbestückten und Röcke werfenden Damen, wie er in den 1890er Jahren in gewissen Etablissements Mode war. Bei Offenbach (Gustav Doré hatte es in einem Gemälde bzw. Stich festgehalten) wird zu dem Höllengalopp ein tosendes Bacchanal in phantastischen antiken Kostümen getanzt, anstelle des höfischen Menuetts! Und eben kein Cancan.

Sängerisch zeigte die Musikalische Komödie, dass sie über ein großes und leistungsfähiges Ensemble verfügt. Die vielen Partien wurden glaubwürdig besetzt, die Venus (Olivia Delauré) prunkte mit Sexappeal, Glimmer und Stimme, ebenso die Diana von Nora Lentner, auch der Merkur von Sandro Hänel begeisterte mit seinem furiosen Rollerauftritt. Der Orpheus von Jeffery Krueger in babyblauem Anzug zeigte stimmlich solides Niveau, die Eurydike der fulminanten Koloratursopranistin Friederike Meinke war allerdings eine zwiespältige Sensation. Stimmlich einer Erna Sack ebenbürtig, trällerte sie in höchsten Tönen und führte atemberaubende Koloraturen und Spitzentöne in schwindelerregenden Höhen vor. Ihr [***] Spiel [***] grenzte ans Peinliche, was der ganzen Aufführung zum Nachteil gereichte, zumal die Phonstärke ihres Singens gewiss nicht im Sinne Offenbachs war und befremdete wie ihr häufig ordinäres Lachen.
So erwies sich die neuerliche Verhunzung der „Opéra bouffe“ zur Operette wieder einmal als ein ärgerliches Missverständnis.
Dieter David Scholz, 25. Mai 2025
*** In den so im Text markierten Stellen stand eine Formulierung, die Anlaß eines beeindruckenden Shitstorms war, in welchem vereinzelt sogar offene Drohungen ausgesprochen wurden. Zur Sache selbst gibt es den Kommentar Über „Bodyshaming“ und das Wesen von Kritik – Anmerkungen zu einem Shitstorm. Die Zensur des Textes ist eine Ad-Hoc-Maßnahme zur Befriedung der Lage. Das unzensierte Zitat können Sie im Kommentar nachlesen.
Die Redaktion
Orpheus in der Unterwelt (Orphée aux Enfers)
Jacques Offenbach
Oper Leipzig / Musikalische Komödie Leipzig
Premiere: 24. Mai 2025
Inszenierung: Marie Victoria Linke
Musikalische Leitung: Michael Nündel
Orchester der Musikalischen Komödie
Weitere Aufführungen: 25., 29., 30. Mai, 17. Juni