Leipzig: „Otello“, Giuseppe Verdi

Intimität, Eifersucht, Missgunst, Lügen und toxische Beziehungen gehören zu den Hauptthemen von Giuseppe Verdis „Dramma lirico“ Otello. Monique Wagemakers‘ Inszenierung (Bühne: Dirk Becker, Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer), die am 17. Dezember 2022 an der Oper Leipzig Premiere hatte, zeigt eindeutig, dass es in dieser Oper um Beziehungen und persönliche Gefühle geht. Wie bei Verdis vorheriger Oper Aida sind Krieg und Politik nur der Hintergrund, vor dem die verbotene oder zumindest tabuisierte Liebe mit dem Tod der Protagonisten endet. Die spärliche Bühne bereichert mit Videos und Beleuchtung sowie der strategische Einsatz wichtiger Requisiten, die sich auf die Geschichte beziehen (z.B. Taschentücher und ein leicht verhülltes Bett), schaffen das Gefühl eines kleinen Raums, in dem die Handlung stattfindet. Wagemakers stellt den psychischen Verfall der einzelnen Charaktere und die schmutzigen, tödlichen Intrigen eindrucksvoll dar. Ein wichtiger Aspekt dieser Inszenierung, der nicht mit dem Libretto übereinstimmt, ist, dass Desdemona eine aktive Rolle in der Handlung einnimmt, In Boitos Text ist sie weitgehend ein passives Opfer. Desdemona hält einen Monolog auf Deutsch, um Otellos anschließenden Mord an ihr zu verurteilen, bevor das Orchester die Wut des Sturms auf die zyprische Küste loslässt.

© Kirsten Nijhof

Verdi brachte seine vorletzte Oper, Otello, am 5. Februar 1887 im Teatro alla Scala in Mailand zur Uraufführung nach einer sechzehnjährigen Pause vom Komponieren neuer Opern nach Aida 1871. Nach ihrer Zusammenarbeit an einer revidierten Fassung von Simon Boccanegra, die am 24. März 1881 am Teatro alla Scala uraufgeführt wurde, überredete der Librettist und Komponist Arrigo Boito Verdi, eine neue Oper zu schreiben, die auf William Shakespeares The Tragœdy of Othello, The Moore of Venice (vermutlich um die Jahre 1603 oder 1604 fertig gestellt) basiert, das wiederum aus der 1565 von Giraldo Cinthio veröffentlichten Sammlung Degli Hecatommithi stammt.

Boito destillierte Shakespeares fünfaktiges Stück auf vier Aufzügen, eliminierte einige Nebenfiguren und machte vor allem die Leichtgläubigkeit der Titelfigur etwas realistischer. Die Vorlage verbesserte er gründlich, wenngleich einige textlicher Makeln nur teilweise aufgelöst sind. Eine verbleibende Herausforderung ist Otellos voreilige unkritische Annahme von Jagos Behauptungen und „Beweisen“ für Desdemonas angebliche Liebe zu seinem Freund Cassio. Zumindest hat Boito Otello zu einem Verwirrten gemacht, dessen Erwartungen an eheliche Treue und der von Jago erfundene vage Verdacht, dass seine Frau untreu ist, ihn dazu bringen, sich irrational zu verhalten.

© Kirsten Nijhof

Mit seiner reichen baritonalen Tenorstimme ist Xavier Moreno eine ideale Besetzung für die Titelrolle. Moreno porträtiert Otello als einen erfolgreichen Feldherrn, der sich aber so sehr von der venezianischen Gesellschaft entfremdet hat, dass er der aufrichtigen Liebe seiner Frau Desdemona misstraut. Otellos wachsende Verzweiflung auf der Suche nach jemandem, dem er vertrauen kann, kommt durch die Dringlichkeit von Morenos Gesang deutlich zum Ausdruck. Jago spürt diese Schwäche und füllt die Leere in Otellos Leben, indem er vorgibt, ein vertrauenswürdiger Freund zu sein. Moreno stellt den Charakter mitfühlbar dar, obwohl er manipuliert wurde, seine Frau zu beleidigen, psychisch zu misshandeln und zu morden.

Laut dem Libretto ist Desdemona eine reine, unschuldige, junge Frau, die Otello aufrichtig liebt. Iulia Maria Dan macht Desdemonas Verwirrung greifbar, als Otello mit einer Reihe von aggressiven Ausbrüchen beginnt, in denen er sie des Ehebruchs beschuldigt. Desdemona liebt Otello bedingungslos und ist ihm treu ergeben, was seine unbegründete Verurteilung unfassbar macht. Dan strahlt die Unschuld der Figur und die Bereitschaft, Otellos Wut zu verzeihen, aus. Besonders bemerkenswert ist die Art und Weise, wie Dan diese Engelsgestalt plausibel erscheinen lässt. Ihre warme Sopranstimme unterstreicht Desdemonas liebevolle Art und trägt dazu bei, dass Otello nicht begreifen kann, wie sehr sie ihn liebt und wie verrückt es für ihn ist, die einzige Person, die ihn schätzt, zu verfluchen und schließlich zu ermorden. Am Ende dieser Inszenierung erhebt sich Desdemona auf unerklärliche Weise und läuft davon, nachdem Otello sie im Bett zu Tode gewürgt hat.

© Kirsten Nijhof

Jago ist einer der bösartigsten Antagonisten in der gesamten Belletristik: eine verweigerte Beförderung in den Rang eines Kapitäns erklärt kaum seine perverse, grausame Rache an Otello. Sein Monolog im zweiten Akt, in dem er seine nihilistische Sicht des Lebens erklärt, ist die einzige Aussage, die er über seine Motivation macht, andere zu seinem eigenen Vorteil (oder vielleicht zum Vergnügen) zu missbrauchen. Der Bariton Vladislav Sulimsky zeigt Jago als das Übel schlechthin und widersteht dabei klugerweise der Versuchung, die Bosheit, die im Libretto bereits übertrieben ist, zu überspitzen. Sulimsky entscheidet sich dafür, genau das zu tun, was Jago in seinem Monolog behauptet, dass die Menschen nur Spielbälle sind, die einer unergründlichen höheren Macht ausgeliefert sind. Deshalb lässt Sulimsky Jago seine Ziele zu verfolgen, ohne zu verstehen, warum er anderen schadet. Sein Jago ist ein Schurke, der sich der Verantwortung entzieht, indem er die Existenz eines freien Willens leugnet. Sulimskys dunkle Stimme macht die Figur angemessen furchterregend, wenn er seine Gedanken äußert, aber auch subtil genug, um andere zu täuschen, die seine Absichten nicht erkennen.

Als Emilia, Jagos Frau, vermittelte Ulrike Schneider überzeugend, dass sie die Absichten ihres Mannes durchschaut hat und entschlossen ist, sich ihm zu widersetzen, selbst wenn das auf Kosten ihrer eigenen Sicherheit geht. Matthias Stier war ein liebenswerter Cassio, der unfreiwillig zum Objekt von Jagos Hass wird, weil Otello ihn zum Kapitän befördert hat. Stier strahlte die Unschuld aus, die Cassio in Jagos Fallen tappen lässt, zuerst indem er sich betrinkt und einen Streit mit Montano und Rodrigo im ersten Akt provoziert und danach, indem er seine Sehnsucht nach Bianca auf eine Art und Weise zum Ausdruck bringt, die Otello als eine Affäre mit Desdemona missversteht. Die kleineren Rollen von Rodrigo (Alvaro Zambrano), Lodovico (Randall Jakobsh), Montano (Joan Vincent Hoppe) und dem Herold (Vincent Turregano) wurden mit Leidenschaft und Engagement gesungen.

Das Gewandhausorchester sowie der Chor der Oper Leipzig, der Kinderchor der Oper Leipzig, der Zusatzchor der Oper Leipzig und die Komparserie der Oper Leipzig unter der musikalischen Leitung von Christoph Gedschold spielte Verdis abwechslungsreiche, manchmal zarte, manchmal intensive Partitur mit langatmigen Tempi und Pracht. Gedscholds spätromantischer Stil kontrastiert mit Arturo Toscaninis zügigem, schlankem Ansatz in seiner Aufnahme von 1947, die Verdis Intentionen entsprechen könnte (Toscanini studierte Verdis Musik bei dem Komponisten selbst und spielte Cello im Orchester bei der Premiere von Otello). Gedscholds Interpretation lässt erkennen, wie das Orchester und die Chöre Entwicklungen wie die „Verismo-Oper“ vorwegnehmen.

Daniel Floyd  23. Dezember 2022

Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN


Giuseppe Verdi: „Otello“

Oper Leipzig

Besuchte Premiere 17. Dezember 2022

Regie: Monique Wagemaker

Chor der Oper Leipzig

Dirigat: Christoph Gedschold

Gewandhausorchester Leipzig