„O Wort, du Wort, das mir fehlt“ ruft Moses verzweifelt am Ende der Oper aus. Doch das gilt nicht für Stéphane Lissner, der seine neue Ära als Intendant mit einer Weltumfassenden, nicht enden wollenden Wortflut einläutet. Solch apokalyptische Worte hallten schon öfters durch Marmorgänge der Opéra de Paris: nach der überaus erfolgreichen Intendanz von Hugues Gall (1995-2004) kam Gérard Mortier, der großspurig erklärte, dass nun alles Anders werden müsste. Neben Oper und Ballett wurde eine dritte Kunstform erfunden, „frontière“, mit Abenden auf der „Grenze von verschiedenen Kunstformen“.
Das monatliche Opernmagazin (vergleichbar mit dem „Prolog“ der Wiener Staatsoper) wurde umgetauft in „Ligne 8“, die U-Bahnlinie auf der sich die beiden Häuser „Garnier“ und „Bastille“ befinden. Denn Mortier wollte fortan „die Jugend und die U-Bahnfahrer“ in die Oper locken – was ihm im Grossen Ganzen nicht gelang. Sein Nachfolger Nicolas Joel (2009-2015) brauchte mehrere Spielzeiten, um die verschreckten Abonnenten zurück zu gewinnen und das Haus aus den negativen Schlagzeilen zu holen.
Jetzt wird wieder alles umgeworfen, bis mindestens 2021. Nicht ganz ohne Grund, denn Stéphane Lissner erklärte diesen Frühling in seiner Antrittspressekonferenz, dass das Durchschnittsalter des jetzigen Publikums bei ungefähr sechzig Jahren liegt und „ein Generationswechsel bevorsteht“. Und wenn die alte Oper die junge Generation „ansprechen“ will, muss sie – so Lissner – „ihre Sprache sprechen“.
So wird ab dieser Spielzeit fast gänzlich auf gedruckte Kommunikation verzichtet: das Opernmagazin wurde abgeschafft und Lissner und sein Team bauten zwei Jahre an einer „dritten Bühne“ („3e scène“), die jeder von uns jederzeit besuchen kann – denn sie befindet sich komplett im Internet. Dort findet man viele kleine kunstvoll gestaltete Filme, von Künstlern die sich „über das Prisma der neuen Medien“ der Pariser Oper nähern. Bei Matthew Clark sieht man wie aus einem Kristall eine Tänzerin wird und bei Xavier Veilhan wie eine Meute wilder Jagdhunde aus dem Wald direkt ins Palais Garnier läuft. In anderen Filmen sehen wir die jungen Tänzer Bier auf dem Dach des Palais Garnier trinken oder wie Feuerwehrmänner nachts durch den legendenumwobenen See unter dem Opernhaus schwimmen. Viele, viele kleine „Ufos zwischen Dokumentarfilm und Videokunst“, die man leicht auf seine Facebook-Seite stellen oder an seine Freunde schicken kann. Sie handeln beinahe ausschließlich vom Ballett, denn der neue Ballettdirektor (der selbst auch einen Film drehte) ist jung und sexy und mit einer bei Jugendlichen sehr bekannten Hollywood-Schauspielerin verheiratet. Das Ballett soll fortan unter der Leitung des neuen Direktors Benjamin Millepied mehr in die Musik- und Opernabende eingebunden werden, mit zum Beispiel einer originellen Kombination von „Iolanta“ und „Nussknacker“, zwei Werke von Tschaikowski am gleichen Abend.
Auch das „Opernstudio“ ändert (wieder) seinen Namen. Aus dem Atelier Lyrique – seit vielen Jahren hervorragend geleitet durch Christian Schirm – wird jetzt eine breiter angelegte Académie, in der auch andere Künstler als (nur) Sänger aufgenommen werden. Die Hauptaufgabe der Académie wird fortan darin bestehen, um im ganzen Land an Schulen und Universitäten Jugendliche für die Oper zu gewinnen.
Nicolas Joel eröffnete 2009 seine erste Spielzeit mit „Mireille“ von Gounod, als Zeichen dafür, dass er die vernachlässigten Werke des französischen Repertoires wieder auf die Bühne bringen wollte. Das hat er auch getan, bis zum „Cid“ von Massenet und dem „Roi Arthus“ diesen Frühling. Lissner will dagegen in den nächsten sechs Jahren den Schwerpunkt auf Werke des XXe und XXIe Jahrhunderts setzen – ohne das gängige Repertoire ganz auszublenden. So kündigt er, zusammen mit dem Musikdirektor Philippe Jordan, einen Schönbergzyklus für diese Spielzeit an und einen großen Berlioz-Zyklus, der im Dezember anfangen wird mit „La damnation de Faust“ (mit Jonas Kaufmann, Bryn Terfel und Sophie Koch). Der Anfang dieses „neuen Programms“ wird gesetzt mit Schönbergs „Moses und Aron“, Lissner will „ein Signal“ setzen mit Werken, die einen „deutlichen Bezug zu heutigen politischen Aktualität haben“ und Opern vermeiden die „nur pure Zerstreuung bieten“. Er meinte im März, dass die Migranten aus Syrien „eines der größten gesellschaftlichen Themen der nächsten Jahre“ werden würden und zeigte damit ein gutes politisches Gespür, denn im Herbst schliefen sie schon in Zelten nicht weit von der Oper. In der neuen, aufwendigen, durch moderne Künstler gestalteten Saisonbrochüre werden die wenigen Zeilen zu „Moses und Aron“ eingeleitet mit einem Zitat von Schönberg: „Ich habe es endlich gelernt und werde es nie vergessen: ich bin kein Deutscher, kein Europäer und vielleicht kaum ein Mensch, aber ein Jude“. Das schrieb er, nachdem er 1921 in dem österreichischem Dörfchen Mattsee mit seiner Familie Zeuge (und Opfer) von antisemitischen Handlungen wurde. Dieses traumatische Erlebnis führte dazu, dass Schönberg – offiziell ein Protestant –zurück zum Glauben seiner Vorväter konvertierte und bei seiner Emigration 1933 ein Jude wurde. Dieses ist sicher keine unwichtige Information in der komplexen Entstehungsgeschichte des Werkes, aber sind Antisemitismus und syrische Migranten wirklich die besten Schlagworte um „Moses und Aron“ vorzustellen? Und war es wirklich nötig, um wenige Minuten vor der Première auf dem Fernsehen mit dramatischer Geste zu verkünden, dass dieses Werk Schönbergs Stellungsnahme sei zu Themen wie „Exodus“ (man lese heutig „Vertreibung aus Syrien“), „Kapitalismus“ (man lese „heutige Weltwirtschaftskrise“) und des islamitischen Attentaten gegen die Zeitung Charly Hebdo (Lissner: „dasselbe Verbot der Abbildung“)?
Der Regisseur Romeo Castellucci hat die intellektuelle Integrität, um sich nicht durch seinen wortgewaltigen und marketinggeilen Intendanten beeinflussen zu lassen und präsentierte eine sehr ästhetische, stark abstrahierte Inszenierung, in der er auf jede billige politische Aktualisierung verzichtete.
Castellucci ist ein in Paris überaus bekannter Theaterregisseur, der schon letztes Jahr im Festival d’automne mit seiner Kompagnie Societas Raffaello Sanzio eine eigene Interpretation zu der Moses-Figur lieferte: „Go down, Moses“ (sie war im Mai auf den Wiener Festwochen zu sehen). Diesen Herbst touren in Paris auch noch seine Inszenierung von Hölderlins „Ödipus der Tyrann“ mit der Schaubühne aus Berlin und seine zwanzig Jahr alte Produktion der „Orestie“ von Aischylos aus Rom. Daneben noch drei andere Theaterproduktionen auf Französisch – also gleichzeitig sechs Castellucci-Inszenierungen in Paris! Oper ist (noch) Neuland für ihn: nach „Parsifal“ (Brüssel, 2011) und „Orfeo ed Euridice“ (Brüssel/Wiener Festwochen, 2013) ist „Moses und Aron“ erst seine dritte Operninszenierung. Sie ist sehr anders als sein in Wien heftig kritisierter „Orfeo“ und Castellucci hat deutlich länger und gründlicher an „Moses und Aron“ gearbeitet als so Manches was wir in den letzten Jahren von ihm gesehen haben.
Wer die Inszenierung von Peter Stein 1995/96 in Amsterdam/Salzburg in Erinnerung hat, weiß wie schwierig dieses Werk zu inszenieren ist: es sollte ursprünglich eine Kantate oder ein Oratorium werden und wurde dann eine unfertige Oper, da Schönberg nicht mehr zu seinem Libretto stand, in dem Moses im nie komponierten dritten Akt Aron zu Tode verurteilt. „Moses und Aron“ wurde erst nach dem Tode Schönbergs zum ersten Mal gespielt: 1951 konzertant in Hamburg und 1954 szenisch in Zürich. Ähnlich wie in den „Gurre-Liedern“, die erst vor einem Jahr in Amsterdam szenisch uraufgeführt wurden, stellt das Werk jedes Haus und jedes künstlerisches Team vor gewaltige Aufgaben: riesige Chormassen, keine wirklich Operntaugliche Handlung und eine Musik, vor dem jedes Opernorchester und jeder Opernchor erst einmal zurückschrecken. (In Schönbergs Zwölfton-Musik darf eine Note erst wiederholt werden, wenn alle anderen Noten gespielt wurden; der erste Akt zählt genau tausend Takte – von dem berühmt berüchtigten „Sprechgesang“ ganz zu schweigen.) Wenn man das Werk „eins zu eins“ inszeniert, wie Peter Stein es versucht hat, entsteht auch mit dem besten Dirigenten (wie damals Pierre Boulez) gähnende Langweile auf der Bühne: Moses steht den ganzen ersten Akt endlos vor dem Chor mit seinem Wanderstab, den er nie benutzt. Im zweiten Akt folgt auf Arons Anweisung der berühmte „Tanz um das goldene Kalb“ (das einzige Stück das wohl zu Lebzeiten Schönbergs gespielt wurde). Doch meistens erleben wir dann nur banale Peinlichkeit – da die Musik, trotz Jazz-Anleihen, auch in dieser „erotischen Szene“ vollkommen unsinnlich bleibt.
Es war also eine interessante Idee, um für dieses Werk einen Regisseur zu wählen, der sich als „bildender Künstler“ definiert (er schuf die ganze Ausstattung) und sich vehement gegen das „Geschichten-Erzählen“ auf der Bühne auflehnt. Denn das zentrale Thema dieses Werkes ist ja gerade die Verweigerung des Wortes, des Bildes, des Gesanges: Moses darf mit dem Volk nur sprechen, Aron kann es mit seinem Gesang bezaubern. Bei ihrer ersten Begegnung sagt Moses: „reinige dein Denken, löse es von Wertlosem, weihe es Wahrem“ und deswegen führt Moses – bei Schönberg – sein Volk in die Wüste. Er prophezeit: „In der Wüste wird Euch die Reinheit des Denkens nähren, erhalten und entwickeln“. Castellucci und seine beiden Dramaturgen haben diese Wortverweigerung auf der Bühne umgesetzt in eine Bildverweigerung. Der größte Teil des Abends spielt vor einem Tüllvorhang, vor dem man oft nur vage erkennen kann was im Hintergrund abläuft. In den ersten Szenen bleibt die weite, weiße Bühne leer und singt der Chor aus dem Off. Moses liegt alleine auf der Vorderbühne unter einem alten Projektionsgerät, auf dem alte Filmrollen abgespult werden, die wie schwarze Wollfäden auf ihn hinab gleiten. Im weißen Hintergrund bewegen sich schemenhaft die Sanddünen der Wüste, bis wir langsam erkennen, dass es sich um die Choristen handelt, die ihn große weiße Wattewolken eingehüllt wurden. Der ganze erste Akt ist wunderbar beleuchtet – die Inszenierung hätte von Bob Wilson sein können. Doch im zweiten Akt verliert Castellucci seine Abstraktionsgabe und wird er plötzlich peinlich konkret. Wir sind ihm dankbar, dass er beim „Tanz der Schlächter“ auf die im Libretto beschriebenen „hereingaloppierenden Stammesfürsten“ verzichtet, vor denen das Volk „aufgeregt auseinanderstiebt“ – denn mit Pferden wurden in der letzten Zeit auf den Pariser Opernbühnen keine guten Erfahrungen gemacht.
Bei der „Orgie der Trunkenheit und des Tanzes“ und der „Orgie der Vernichtung und des Selbstmordes“, verzichtet Castellucci auf das inzwischen schon fast obligate Nackedei. Sogar in der „Erotischen Orgie“ behalten die „nackten Jungfrauen“ und die „nackten Jünglinge“ sowie „Einige andere Nackte“ ihre weißen Kostüme an. Doch was er uns dafür bot war eher befremdend: in dem riesigen weißen Bühnenprospekt öffnete sich eine Art Klimt-Fries mit hunderten nackten Statisten. Sie lagen regungslos da – von Sinnlichkeit keine Spur, es hatte beinahe etwas von Leichen in einer Gaskammer. (Letztes Jahr inszenierte Castellucci Strawinskys „Sacre du Printemps“ an der Ruhrtriennale mit Knochenstaub statt Tänzern.) Als „goldenes Kalb“ watschelte ein dicker Stier über die Bühne, der in einer trostlosen Tollpatschigkeit einen Kreis um eine nackte Statistin drehen musste und dabei wie ein altes Nashorn oder ein zahnloser Wasserbüffel wirkte (die fünftausend Euro Abendgage die er und sein Trainer pro Vorstellung bekommen hätte man sich wirklich sparen können). In Wien sorgte vor zwei Jahren bei „Orfeo ed Euridice“ die Einbeziehung einer Koma-Patientin in die Inszenierung für heftige Kritik. Jetzt ließ Castellucci geistig und körperlich behinderte Menschen in Rollstühlen über die Bühne fahren, ohne dass wir im mindesten verstanden warum. Das hätte er ihnen ersparen können – und uns auch.
Die Hauptfigur dieser Oper ist ausnahmsweise der Chor. Der Chor der Pariser Oper wurde mit einigen Extra-Chören aufgestockt und es scheint, dass er unter der sehr kompetenten Leitung von José Luis Basso und Alessandro Di Stefano ein ganzes Jahr geprobt hat. Sie können Stolz auf ihre Leistung sein und stolz darauf, dass die meisten der zwanzig Nebenrollen mit Mitgliedern des Chores besetzt wurden, die alle ein perfektes Deutsch sangen. Der Chor der Komischen Oper in Berlin wurde vor wenigen Wochen in der Zeitschrift „Opernwelt“ zum „Chor des Jahres“ gewählt, wegen seines „virtuosen Körperseinsatzes, musikantischen Esprit und seiner klanglichen Plastizität“, die ihn – so Opernwelt – zum „atemraubend pochenden Herzen der „Moses und Aron“-Produktion“ machten. Das konnte der Pariser Chor in dieser Inszenierung nicht werden, da die vielen, im Libretto so genau beschriebenen Rollen, nie individualisiert wurden und der Chor nur als schemenhafte Masse auftauchte. Der auch als Wotan bekannte Thomas Johannes Mayer sprach/sang einen beeindruckenden Moses, mit einem wirklichen, eigenen Rollenprofil. Über Lissners Wahl des John Graham-Hall als Aron kann man sich nur wundern. Der Tenor war vor einigen Jahren noch ein überzeugender Perelà (von Dusapin) und ein wunderbarer Aschenbach (von Britten) an der von Lissner geleiteten Scala, aber als Aron – der das Volk verführt – wirkte er neben dem kräftigen Moses von Mayer stimmlich zu schmal und szenisch zu alt (eben ein perfekter Aschenbach). Philippe Jordan dirigierte mit großem Einsatz und wirklichem Engagement diese Musik über die er offensichtlich viel nachgedacht hat – das öffnet neue Perspektiven für die kommenden Spielzeiten.
Das Orchester spielte deutlich motiviert, doch nach einiger Zeit schien es an Präzision zu verlieren in dieser, zugegeben, höllisch schwierigen Partitur. Oder wurde unser Konzentrationsvermögen zu sehr geschwächt durch die Bühne? Denn beinahe den ganzen Abend lang wurden Worte auf den Tüllvorhang projiziert. Erst wenige Worte wie „Bruder, Erde, Volk, Idee“ – offenbar als Kommentar auf das Bühnengeschehen. Doch dann fing der Projektionsapparat an immer schneller zu laufen, es folgten ganze Wortserien zu Flüssen, Wüsten, Krankheiten bis es mehrer Worte pro Sekunde wurden, die nichts mehr mit dem Stück zu tun hatten, wie „Kühlschrank, Känguru, Tango, Schokolade, Golf, Fernsehen, Hobby“ etc. Nicht Dutzende Worte, sondern eine wirkliche Publikumsbeschießung mit tausenden Worten, denen man nicht entweichen konnte (sie standen metergroß auf der Bühne) und die unser Hirn mit Unsinn vollmüllten. Als Moses den Abend beschloss mit „O Wort, du Wort, das mir fehlt“ ging ein Lachen durch den Saal. Denn diese Inszenierung kann in das Guinness Book of Records aufgenommen werden als die mit den meisten Worten. „Words, words, words“ – wie Shakespeare es schon sagte…
Waldemar Kamer 24.10.15
Besonderer Dank an MERKER-Online (Wien)
Fotos: Opéra National / Bernd Uhlig