Salzburg: „Il viaggio a Reims“, Rossini

© Tobias Witzgall

Es gibt für einen Opern-Aficionado vielleicht nichts Schöneres an einem sehr runden, höheren Geburtstag, als an diesem Abend in (s)ein geliebtes Institut zu gehen, um sich eine der Opern über die Oper anzuschauen und -zuhören. Besser noch als ein Macbeth in Wien oder eine Walküre in Bologna passte da auf schier magische Weise Rossinis Il viaggio a Reims im Salzburger Landestheater. Denn in der Reise nach Reims geht es, obwohl es zweieinhalb Stunden meist sehr lustig zugeht, in erster, nicht einmal in zweiter Linie, um so etwas wie eine nacherzählbare Handlung. Es geht schlicht und einfach um die pure Schönheit des Gesangs, um vokale Höchstleistungen, durchaus auch um ein Starwesen, um die Güte eines Komponierens, das doch – das sind so die Paradoxien der Gattung Oper – ins Innerste des Genres, damit auch auf die Herzen der Zuhörer zielt. Indem Rossini sein Genie eines Stück zuwandte, das als Huldigungsstück für den neugekrönten Charles X. konzipiert wurde, schuf er ein Stück,, das von allen Konventionen einer traditionellen, auf Aktion basierenden Oper frei war. Dies gab ihm eine ungeheure Freiheit, die ein Höchstmaß an Charme, Witz und, ja, auch tiefer, im schlichtesten Gewand daherkommender Empfindsamkeit  (noch so eine Paradoxie der Oper) entband, wie sie im Werk Rossinis einzig dasteht. Philippe Gosset hatte Recht, als er , nachdem das Werk endlich wieder auf den Bühnen erscheinen konnte, vom seltenen Fall der Wiederentdeckung eines Meisterwerks und eines der geistreichsten Stücke, die Rossini je komponiert habe, sprach. Als der Komponist die Hälfte des großartigen musikalischen Materials in seiner nächsten Oper, dem Comte Ory, wiederverwendete, gerieten einige dieser Stücke in eine dramaturgische Schieflage. Wir wissen davon erst seit wenigen Jahrzehnten, denn die Originalpartitur der Viaggio a Reims war nicht mehr in Gänze vorhanden, so dass man aus mehreren Quellen – Originalen und Abschriften – die Urgestalt der Oper rekonstruieren musste; nur ein Chor und zwei Rezitative fehlten. Was herauskam, war ein Werk, das seit seiner ersten neueren Aufführung unter Claudio Abbado die Opernliebhaber und -Gourmets jedes Mal zu entzücken pflegt – so auch in Salzburg.

© Tobias Witzgall

Die „Handlung“ ist simpel: Einige Reisende – Verliebte, Eifersüchtige, Modenärrische – warten in einem Gasthof auf die Weiterfahrt zur Krönungsfeier, die in Reims stattfinden soll. Als keine Möglichkeit mehr besteht, rechtzeitig zum Ziel zu gelangen, lädt eine der Damen die ganze Truppe nach Paris ein. Dann veranstaltet man im Gasthof ein Bankett, in dem einige der Herren und Damen nationale Weisen zum Lob ihrer Länder und Herrscher vortragen. Das Ganze endet freudig, wie man früher gesagt hätte, indem der gefeierte Gesangsstar Corinna ein Loblied auf den neuen König singt und der „stolze König“ von Allen bejubelt wird. Das Nichts von „story“ aber wird begleitet von hinreißenden Arien, Duetten und einem Sextett, das zu Rossinis Bestem gehört. Im Grunde ist eine Aufführung der Viaggio a Reims ganz leicht zu bewerkstelligen: Man braucht nur 14 ausgewiesene Spitzensänger und einige Sänger kleinerer Partien, auch ein sehr gutes Orchester (und zwei erstklassige Instrumentalsolisten) und einen guten Chor. Insofern ist das Werk so leicht zu besetzen wie die Meistersinger von Nürnberg… In Salzburg gelingt es. Unter der Leitung von Tobias Meichsner spielt das Mozarteumorchester Salzburg einen frischen und tempo- wie Rhythmus sicheren Rossini heraus. Corinna, die Besondere unter den besonderen Vokalsolistinnen, wird in ihren Solo-Nummern von einer Harfe begleitet, da sich die Figur, als „Improvisationskünstlerin“, stets selbst zu begleiten pflegt. Katharina Teufel-Lieli sitzt in der letzten Szene hinter der Sängerin, in der linken Orchesterloge; es zieht, glaube ich, alle Besucher des Landestheaters in den Bann. Ingrid Hasse spielt während der Auftrittsarie des Lord Sidney, Invan strappar dal core, die höchst virtuose Flöte; sie tut es glänzend. Schwer zu sagen, wer am Abend den Sängerpreis davontragen würde. Ist es die wohltuend hellklingende wie stimmlich einfach nur angenehm ins Ohr klingende Corinna (eine Idealbesetzung) der Anita Giovanna Rosati, die zwischen ihren lyrischen Nummern, also den bewusst als Liedern angelegten Stücken ein typisch rossinisches Duett mit einem Möchtegern Cavalier zu singen hat? Ist es die höchst souveräne Nicola Lubinger, die der modeverrückten, an einem vermissten Gepäckstück fast dahinsterbenden Contessa Folleville ihre geläufige Gurgel schenkt? Ist es der Don Profondo des Daniele Macciantelli, der seine Arie über die einzelnen Nationaltypen, Medaglie incomparabili, mit dem nötigen Humor und einer schier unermüdbar scheinenden Kehle gestaltet? Oder das Pärchen Theodore Brown und Katie Coventry, die als sich streitende und natürlich wieder sich versöhnende Conte di Libeskof und Marchesa Melibea das Publikum solistisch und duettierend zu Begeisterungsstürmen hinreißen, weil sie Stimmschönheit mit Ausdruck, äußerste Beweglichkeit mit äußerster Spiellust verbinden? Ist es der feine lyrische Tenor Yevheniy Kapitula, der als Vertreter der spanischen Nation den Luftikus Don Alvaro mimt und eher spaßhaft die große Sängerin becirct? Oder George Humphreys, ein gebürtiger Engländer, der dem britischen Lord Sidney einen besonderen, auch besonders empfindsamen Ton verleiht, was freilich auf seltsam-schöne Weise mit der inszenatorischen Deutung harmoniert? Und was ist mit Amber Norelais tirolerischer Madama Cortese, Hyunduk Kims Cavalier Belfiore und Pasquale Grecos deutscher und ein wenig trottelig, mit Liebe zu Weißwürsten und Brezen dargestellter Barone di Trombonok? Mit einem Wort: man kann im Salzburger Landestheater gerade ein großartiges Ensemble bewundern.

© Tobias Witzgall

Natürlich ist die Regie einer Oper, in der die Handlung wenig zu sein scheint, besonders wichtig. Andrea Bernard hat sie in einen von Alberto Beltrame entworfenen Flughafen verlegt, der sinnigerweise von der Airline Goldene Linie betrieben wird. Man befindet sich offensichtlich im „lieblichen Schatten“ eben jener „Lilie“, die zu Beginn der Huldigungsarie der Corinna zitiert wird: eine gute, nein, eine sehr gute Idee – denn sie funktioniert. Das Chaos am Flughafen, verschwundene Gepäckstücke, Liebesgeschichten, Bodenpersonal und Weiterfliegende, das klappt sehr, sehr gut. Auch das stumme Flugpersonal erheitert uns: wenn die Herren und Damen vom Bewegungschor zunächst die bekannten Pantomimen ausführen und sodann, zum großartigen Sextett des ersten Akts, ebenso blöd grinsen wie sie komisch tanzen. Chapeau! Chapeau auch für die Idee, mit der Madama Corinna eine andere Welt buchstäblich einfliegen zu lassen. Hört man sie zuerst aus dem Off, schwebt eine Gestalt, die auffällig der Nana Moskouri ähnelt, plötzlich im einbrechenden Schneegestöber vom Himmel. Ein Theatertrick oder Pure Magie, denn Corinna ist tatsächlich so etwas wie ein „Alien“ (O-Ton Programmheft) in der immer ein wenig aufgeregten Gesellschaft der Reisenden, die nicht vom Fleck kommen, zumal in ihrem Gepäck nichts weiter versteckt ist als Wolken. Gleichzeitig leidet Lord Sidney  – entzückend: er wird während der langen Einleitung zu seiner Arie von einer stummen Interviewerin am Flughafen abgepasst – am Brexit. „Cancel Brexit“, ein junger Mann demonstriert gegen den Austritts Englands aus der europäischen Völkerfamilie, wir lesen’s auf seinem Protestplakat. Der Engländer, der bei Rossini und seinem Librettisten Luigi Ballocchi noch in eine Frau verliebt ist, um seinem lyrischen Schmerz Ausdruck zu verleihen, hat hier eine wesentlich größere Geliebte: Europa. Am Ende wird nur noch die einsame EU-Fahne zu sehen sein, nachdem die Drehbühne, die am Abend fleißig in Betrieb ist, ihren letzten Dienst getan hat.

Einziger wirklicher „Regieeinfall“: Im Schlusschor, der anachronistisch geworden ist, weil es heute keinen König mehr zu bejubeln gibt, ziehen sich, warum auch immer, die Sänger ihre Oberkleider aus, deutliche Verzweiflung im Blick. Mag sein, dass man auf diese absurde Art die Distanz auszudrücken vermag, die die Europäer heute von den Huldigungsorgien einer monarchistisch geprägten Vergangenheit trennt. Allein nun sind auch die riesigen Wolken verschwunden, die während Corinnas Lied plötzlich auch im Flughafen über den Häuptern der Passagiere erschienen waren.

Der Rest ist einfach nur ein einziger, geistreicher und hochmusikalisch beseelter Spaß – also für ein sehr rundes Geburtstagsfest glänzend geeignet.

Frank Piontek, 19. Oktober 2024


Die Reise nach Reims
Rossini

Landestheater Salzburg

Premiere: 21. September 2024

Besuchte Aufführung: 18. Oktober 2024

Musikalische Leitung: Tobias Mechsner
M
ozarteumorchester Saklzburg