Vom 60. Macerata Opera Festival bieten wir einen Überblick mit vier Besprechungen.
„La Bohème”, Giacomo Puccini
Die hier besprochene Produktion stammt aus 2012 und erhielt damals den „Premio Abbiati“, die wichtigste italienische Auszeichnung für Opern. Sie wurde heuer zum zweiten Mal wiederaufgenommen und von Alessandra De Angelis ausgezeichnet betreut. Die Regie von Leo Muscato hatte die Handlung in die Zeit der Streiks 1968 in Paris versetzt (was erst im 3. Akt deutlich wurde, als statt der Barrière d’Enfer das mit Streikaufrufen beklebte verschlossene Tor einer Fabrik zu sehen war, das von Soldaten in Kampfmontur bewacht wurde. Statt der Zöllner prüften halt diese den Inhalt der von den Frauen mitgebrachten Körbe). Um zum 1. Akt zurückzukehren: In die ärmliche Mansarde der angehenden Künstler gelangte man durch eine Bodenluke, ein Stockbett und zusammengewürfeltes Mobiliar ergänzten die Ausstattung (Bühne: Federica Parolini). Im 4. Akt wird auch dieses verpackt und abgeholt, sodass nur zwei Stühle übrigbleiben. Auch der schwierige 2. Akt findet eine geschickte Lösung mit Luftballons schwingenden Kindern im Vordergrund und dem Chor als sich rechts und links vergnügende Kunden von „Momus“. Vier Turbanträger begleiten rhythmisch Musettas Auftrittswalzer im silbernen Glitzerkleid (die den damaligen Zeitläuften entsprechenden Kostüme entwarf Silvia Aymonino).
Nicht ganz plausibel erschien mir Mimìs Tod in einem blütenweißen Spitalsbett mit drei Krankenschwestern und einem Arzt. Auf der Straße zusammengebrochen, wäre sie wohl kaum in eine Privatklinik eingeliefert worden. Außerdem besteht hier wirklich ein großer Kontrast zum Text, wenn die jungen Leute all ihr weniges Geld zusammenkratzen, um Medizin zu besorgen und einen Arzt zu rufen. Andererseits machte es einen gewissen Eindruck, wenn das Bett mit der toten Mimì, deren Gesicht mit einem Leintuch bedeckt war, wieder hinausgeschoben wurde und aus Rodolfos Augen sofort verschwand. Das szenische Zusammenspiel der vier Bohemiens war hervorragend, denn es gab nicht den so oft gesehenen Auftritt gesetzter Herren, die auf lustig machen (obwohl Schaunard und Marcello durchaus keine Jungspunde waren). Aus dem Gefecht im 4. Akt wurde ein Boxkampf, und es sei auch vermerkt, dass Marcello und Musetta nach ihrem Krach im 3. Akt nicht jeder auf die andere Seite abging, sondern sie sich heftig in die Arme fielen und ihre Liebe im Stauraum eines Lieferwagens auslebten.
Die Besetzung war auch stimmlich reizvoll, wobei die Krone Mariangela Sicilia gebührt, die mit reinem und gut tragendem Sopran eine trotz ihrer Krankheit lebenshungrige kleine Näherin gab. Ihr Rodolfo war der 27-jährige, noch etwas schmalstimmige Valerio Borgioni, für den die Puccini-Oper mit ihrer dichten Orchestration zu früh kommt. Er hielt sich aber tapfer. Eine Freude waren Mario Cassi als Marcello und Vincenzo Nizzardo als Schaunard, beide in stimmlich guter Form und bestens aufeinander eingespielt. Vor allem Nizzardo stellte, ohne sich in den Vordergrund zu spielen, einen prachtvollen Typ dar. Daniela Cappiello überzeugte mit kleinem, aber festem Sopran als flatterhafte Musetta, die ihrem Marcello ja doch verfallen ist. Aus der Mantelarie des Colline hätte Riccardo Fassi vielleicht mehr machen können, aber auch er stellte seinen Mann. Macerata leistete sich den Luxus, Benoît und Alcindoro mit zwei verschiedenen Sängern zu besetzen (Francesco Pittari und Giacomo Medici, beide bestens charakterisierend.
Der Coro Lirico Marchigiano „V. Bellini“ unter Martino Faggiani, für mich der beste Chorleiter Italiens, sang wunderbar (und hatte, wie wir in der Folge sehen werden, noch drei überaus wichtige Einsätze zu bestreiten). Valerio Galli, Spezialist für Puccini und die Scapigliati, leitete mit Schwung und Präzision das FORM-Orchestra Filarmonica Marchigiana.
Viel Applaus und Bravorufe.
La Bohème
Giacomo Puccini
Arena Sferisterio
7. August 2024
Inszenierung: Leo Muscato
Musikalische Leitung: Valerio Galli
FORM-Orchestra Filarmonica Marchigiana
„Carmina Burana“, Carl Orff
Der Vertonung der mittelalterlichen Texte durch Carl Orff war ein riesiger Erfolg beschieden, mit Bravorufen, Getrampel und Pfiffen wie bei einem Popkonzert. Mit dem auswendig dirigierenden Andrea Battistoni stand der richtige Mann am Pult des FORM-Orchestra Filarmonica Marchigiana, der nie den Überblick über die Chormassen verlor (Coro Lirico Marchigiano „V. Bellini“ unter Martino Faggiani und Pueri Cantores „D. Zamberletti“, einstudiert von Gian Luca Paolucci) und der blechlastigen und an Schlagzeug so reichen Partitur den rechten Rhythmus verlieh. Ausgezeichnet die Solisten: Dave Monaco als der Gebratene Schwan, dessen jammervolle Ausrufe dennoch schön klangen (was selten der Fall ist), der sanguinische Mario Cassi als überzeugend die Trunkenheit Besingender und schließlich Giuliana Giuanfaldoni mit makellosem lyrischen Sopran die Liebe besingend.
Hinter dem Chor liefen die von Studierenden der Accademia delle Belle Arti di Macerata ersonnenen Projektionen moderner und klassischer Porträts, aber auch skurriler Abbildungen. Den neun Studentinnen und zwei Studenten darf zu ihren Einfällen gratuliert werden.
Wie schon erwähnt, war das Publikum hingerissen und brachte seine Begeisterung lautstark zum Ausdruck.
Carmina Burana
Carl Orff
Arena Sferisterio
8. August 2024
Musikalische Leitung: Andrea Battistoni
FORM-Orchestra Filarmonica Marchigiana
„Norma“, Vincenzo Bellini
Für Vincenzo Bellinis Meisterwerk genügten der Dokufilmerin Maria Mauti Andeutungen der Gruppe Garcés-de Seta-Bonet Arquitectes unter Mitarbeit von Carles Berga in Form von Stahlgerüsten auf verschiebbaren Podien. Von hier aus sang Oroveso seinen einleitenden Aufruf an die Krieger und später Norma ihr „Casta diva“ (ich möchte übrigens schüchtern darauf hinweisen, dass die nachfolgende Cabaletta „Bello a me ritorna“ wesentlich schwieriger zu singen ist als die berühmte Arie). Der wieder ausgezeichnet singende Coro Lirico Marchigiano „V. Bellini“ unter Martino Faggiani trat mit grüne Blätter tragenden Ästen auf und wurde im Laufe der Handlung sehr gut geführt. Zeitlos di Kostüme von Nicoletta Ceccolini und besonders wichtig die stimmige Beleuchtung durch Peter van Praet. Clotilde tritt öfter auf als sonst, da dem Publikum gezeigt wird, wie sie mit den (recht groß ausgefallenen) Kindern Bilderbücher liest. Überhaupt sind die Kinder präsenter als üblich, womit Normas existenzielle Pein unterstrichen wird. Auf sechs blau gekleidete Damen, die die Gefühle der Sänger mimisch ausdrücken sollten, vermochte die Regisseurin offenbar nicht zu verzichten. Aber der Gesamteindruck war grandios, vor allem auch wenn Norma und Pollione statt auf einen Scheiterhaufen die Treppen eines der Gestelle wie befreit in eine andere Welt hinaufschreiten.
Auch musikalisch kann von einem exzellenten Abend die Rede sein. Fabrizio Maria Carminati ließ das FORM-Orchestra Filarmonica Marchigiana alle Schattierungen von Bellinis Musik herausarbeiten, jede Nuance passte zur jeweiligen Phrase, und die Spannung ließ nie nach. Marta Torbidoni gab ihr Debüt in der Titelrolle und enttäuschte nicht. Da sie mit Mariella Devia studiert, nehme ich an, dass die beiden Damen die Rolle gemeinsam erarbeitet haben. So jedenfalls mein Eindruck während der perlenden Koloraturen und der auch in Normas Hasstiraden nie angestrengten Stimme. Das ganz große Charisma fehlt noch, aber mit mehrmaligem Singen wird sich auch die Persönlichkeit der Sängerin ihrer Aufgabe anpassen. Auch hier war für die Adalgisa ein Sopran gewählt worden, und Roberta Mantegna entsprach stimmlich den sanften Tönen der Adalgisa. Weniger gut stad ihr ein übergroßes plissiertes Kleid. Antonio Poli war ein Pollione, der auch piano zu singen vermochte und eine stimmlich raffinierte Interpretation gab. Die zwei bis drei Spitzentöne ohne squillo seien ihm gern vergeben. Den Oroveso gestaltete Riccardo Fassi als bösartigen Kriegstreiber und überzeugte auch szenisch. Zuverlässig die Clotilde von Carlotta Vichi und der leicht nasale Flavio des Paolo Antognetti.
Auch hier viel Beifall des lebhaft mitgehenden Publikums.
Norma
Vincenzo Bellini
Arena Sferisterio
9. August 2024
Inszenierung: Maria Mauti
Musikalische Leitung: Fabrizio Maria Carminati
FORM-Orchestra Filarmonica Marchigiana
„Turandot“, Giacomo Puccini
Bei einer Freiluftaufführung von Puccinis letzter, unvollendeter Oper kann nicht ganz auf Ausstattung verzichtet werden, die aber von dem auch für das Bühnenbild verantwortlichen Regisseur Paco Azorín sehr gut gelöst wurde. Links und rechts grüne Reisfelder und die Choristen mit den charakteristischen kegelförmigen Hüten. Überwacht wird das verstörte Volk von einer Art Leibgarde Turandots, Amazonen mit Pfeil und Bogen und langen Pferdeschwänzen, die den unglücklichen Prinzen von Persien durchlöchern wie den Heiligen Sebastian. In der Bühnenmitte steht ein rotes Podest, auf dem die drei Minister auftreten, später auch Altoum und Turandot selbst. Darüber erhebt sich ein ebenfalls rotes Gestänge, während die Weisen und Altoum ganz oben wie auf der Beleuchterbrücke stehen. Calaf werden die Augen verbunden, um die Rätsel anzuhören, und sobald er die Antwort weiß, reißt er sich jedes Mal die Binde herunter. Für die jeweils in eine Art Arbeitsgewand in Braun, Blau und Grün gesteckten Minister ist dem Regisseur nicht viel eingefallen, um jedem von ihnen eine persönliche Note zu verleihen. Gut herausgearbeitet war Turandots Verwunderung angesichts von Liùs tiefer Liebe. Der 3. Akt endete mit Liùs Tod, dann wurde ein Bild Puccinis projiziert und Toscaninis Ansage, dass der Meister an dieser Stelle gestorben sei. Das Publikum klatschte lange, weil ihm offenbar nicht aufgefallen war, dass der Dirigent sein Pult noch nicht verlassen hatte. Als dann Stille eintrat, bot der von Martino Faggiani einstudierte, wiederum phänomenal singende Coro Lirico Marchigiano „V. Bellini“ die von Franco Alfano erarbeitete Schlusshymne – eine gute Idee.
Francesco Ivan Ciampa bot mit dem FORM-Orchestra Filarmonica Marchigiana eine wohlausgewogene, stringente Interpretation. Die Titelrolle war bei Olga Maslova sehr gut aufgehoben, denn sie pfefferte „In questa reggia“ ohne Schwierigkeiten in das Rund des Sferisterio, vermochte aber auch verletzliche Seiten der grausamen Prinzessin im piano zu singen. Sauber gesungen und berührend gespielt war die Liù von Ruth Iniesta, der Antonio Di Matteo ein persönlichkeitsstarker Timur war. Der Calaf des Angelo Villari besaß alle dramatischen Spitzentöne (und sang auch das wahlweise hohe C in der Rätselszene), blieb als Figur aber blass. Paolo Antognetti (Pang), Francesco Pittari (Pong) und vor allem Lodovico Filippo Ravizza als Ping bildeten ein harmonisches Trio und machten angesichts fehlender Impulse seitens des Regisseurs das Beste aus ihrer großen Szene. Positiv fiel auch der Mandarin von Alberto Petricca auf. Sehr gut auch wieder die reinen Stimmen der Pueri Cantores „D. Zamberletti“, einstudiert von Gian Luca Paolucci.
Turandot
Giacomo Puccini
Arena Sferisterio
10. August 2024
Inszenierung: Paco Azorín
Musikalische Leitung: Francesco Ivan Ciampa
FORM-Orchestra Filarmonica Marchigiana
Eine ausgezeichnete Serie von Aufführungen, die Macerata und dem Sferisterio zur Ehre gereichten.
P.S.: Die nächste Saison bringt „Macbeth“ und „Rigoletto“ in schon bestehenden Inszenierungen und als Neuproduktion erstmals im Sferisterio „Die lustige Witwe“ (in italienischer Sprache).
Eva Pleus, 16. August 2024