Macerata: „Lucia di Lammermoor“ und „La Traviata“

Von den diesjährigen Produktionen auf der überlangen, aber wenig breiten Bühne (das Sferisterio wurde bekanntlich als Gebäude für ein im 19. Jahrhundert überaus populäres  Ballspiel errichtet) konnte ich zwei Titel sehen, die in der Folge besprochen werden:

„Lucia di Lammermoor“, Gaetano Donizetti

In Koproduktion mit den französischen Chorégies d’Orange auf die Bühne des Sferisterio gebracht, war diese Regie von Jean-Louis Grinda vor Jahren für Tokio entstanden und später auch in Valencia und Montecarlo gezeigt worden. Allerdings war die für normale Bühnenmaße gedachte Ausstattung nicht zu gebrauchen, weshalb Grinda sich für den Einsatz von Videos (Design: Étienne Guiol, Realisierung: Malo Lacroix, Licht: Laurent Castaingt) entschied, die zeigten, dass sie bei richtigem Einsatz durchaus angebracht sein können. Grinda war es wichtig, zu unterstreichen, dass Schottland vom Meer umspült ist und dieses die Liebenden ja trennt, und so spielte dessen Projektion genauso eine Rolle wie jene eines herabstürzenden Wasserfalls im 2. Bild, der an die Stelle des üblichen Brunnens trat. Ashtons Schloss wurde direkt auf der Bühne durch zwei künstlerisch gestaltete Gitter angedeutet, die Requisite beschränkte sich auf Enricos Schreibtisch (BB: Rudy Sabounghi), dennoch war viel Atmosphäre gegeben, aber auch in den Bildern, die vor der projizierten Ruine des Ansitzes der Ravenswood spielten und schließlich auf dem Friedhof mit ein paar angedeuteten Grabsteinen, wo dann neuerlich das (auch bei den Umbauten rauschende) Meer die Oberhand gewann.

© Marilena Imbrescia

Die Kostüme (Jorge Jara) waren in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts, also in der Entstehungszeit des Werks, verortet, nur Edgardo trug klassischen Schottenrock. Da der Regisseur Enrico und Lucia als Zwillinge sieht, die sich durchaus gut verstehen würden, wäre da nicht die Politik, zeichnet er Lucia zunächst als emanzipierte Frau à la George Sand in Reitkleidung, über die vor der erzwungenen Hochzeit ein Brautkleid gestreift wird. Zur Zeremonie trägt sie einen Trauerschleier. Nicht ganz verständlich fiel der Schluss aus, denn wir sehen, wie Lucia begraben wird, Edgardo kurz zu ihr hinabsteigt, als wollte er sie herausholen, wieder aus der Grabstelle kommt und dann in den Hintergrund abgeht.

© Marilena Imbrescia

Die musikalische Seite litt unter den von Jordi Bernàcer gewählten langsamen Tempi, die den Fluss der vom Orchestra Filarmonica Marchigiana gespielten Musik einige Male nahezu zum Stillstand brachten und damit keine Stütze für die Sänger waren. Die Titelrolle wurde von der Spanierin Ruth Iniesta gesangstechnisch korrekt interpretiert, aber ihre Darstellung weckte nicht viel Mitgefühl, vielleicht auch, weil der vom Regisseur gewünschte Umschwung von der selbstsicheren jungen Frau zum Opfer nicht leicht umzusetzen war. Da tat sich Davide Luciano als ihr Bruder schon leichter, denn es gelang ihm, sein Schwanken zwischen der Zuneigung zu seiner Schwester und der Notwendigkeit, ihr seinen Willen aufzuzwingen, deutlich zu machen. Sein angenehm timbrierter, voluminöser Bariton entsprach dem Rollenbild, wobei Luciano es sich nicht nehmen ließ, sich ein paar Spitzentöne einzulegen. Das tat auch Dmitry Korchak ausgiebig bei seinem Rollendebüt als Edgardo, der – als bekannter Rossinisänger – neben sehr schönen Piani auch die nötige Kraft und das interessante Timbre für diese romantische Opernrolle aufbrachte. Paolo Antognetti setzte die Reihe der Tenöre fort, die in letzter Zeit die kurze, aber gefürchtete Rolle des Arturo mit Sicherheit und gutem Klang bewältigten. Einen gar nicht guten Tag hatte Mirco Palazzi, dessen Raimondo halsig klang und die nötige Autorität vermissen ließ. Angenehm der Mezzo von Natalia Gavrilan (Alisa), meckernd der Normanno des Gianluca Sorrentino. (Die Figur wird in diese Produktion insofern aufgewertet, als er öfters fast im szenischen Mittelpunkt steht und seine Hände während Lucias Wahnsinnsszene blutverschmiert sind.

© Marilena Imbrescia

Auch hier wurde die kleine Szene nach Lucias Abgang gegeben, in der Enrico und Raimondo alle Schuld an den tragischen Ereignissen auf Normanno wälzen. Abgesehen davon, dass damit die Spannung abflacht, ist es auch dramaturgisch unglaubwürdig, denn auch ohne seinen Hinweis auf Lucias Liebe zu Edgardo hätte Enrico sie zur Heirat mit Arturo gezwungen. Hervorragend studiert war der Coro lirico marchigiano „V. Bellini“ – kein Wunder, war doch der große Chorleiter Martino Faggiani dafür verantwortlich. Als hervorragender Betätiger der Glasharmonika überzeugte Sascha Reckert.

Viel Zustimmung von Seiten des aufmerksamen Publikums (das Sferisterio hat 3000 Plätze und eine besonders gute Akustik).


Lucia di Lammermoor
Dramma tragico in tre atti von Gaetano Donizetti

Besuchte Vorstellung: 12. August 2023 (Premiere)

Regie: Jean-Louis Grinda
Bühne: Rudy Sabounghi / Étienne Guiol
Dirigent: Jordi Bernàcer
Chorleiter: Martino Faggiani
Orchestra Filarmonica Marchigiana


„La Traviata“, Giuseppe Verdi

Diese Inszenierung wurde 1992 für das Sferisterio geschaffen (und erhielt 1993 den Preis der italienischen Musikkritik, den „Premio Abbiati“), wo sie mehrmals wiederaufgenommen und in größenmäßig adaptierter Form auch auf Tourneen gezeigt wurde (nur die Dimensionen der Peking Opera erlaubten die originale Version).

Die Produktion ist auch als „Traviata degli specchi“ bekannt geworden, denn der geniale Bühnenbildner Josef Svoboda hatte ein System entwickelt, mit Hilfe einer speziellen Folie einen Spiegeleffekt zu erreichen, der Geschehen und Ausstattung der Bühne auf deren Rückwand wiedergab. Auf dieser vermischte sich im 1. Akt die Projektion verschiedener Gemälde erotischen Gehalts, zeigte im zweiten zunächst das von Violetta gemietete Landhaus, in der Auseinandersetzung mit Germont père eine Fülle von Margeriten, während des Szenenwechsels zum 2. Bild des 2. Akts Reisende in Karossen (Violetta eilt ja nach Paris) und schließlich während der letzten Minuten des Finales ein Spiegelbild des Sferisterio mit dem Publikum – ein in den seither vergangenen dreißig Jahren oft genutzter Effekt, damals vermutlich ziemlich neu.

© Marilena Imbrescia

Regisseur Henning Brockhaus hat die Handlung textgetreu inszeniert und im Laufe der Jahre nur immer wieder Kleinigkeiten geändert. Heuer fügte er während des Vorspiels die Szene von Violettas Begräbnis hinzu, auch kein ganz neuer Einfall. Der 1. Akt ist trotz einiger mit Masken versehenen unnötiger Balletttänzer sehr gut gelöst – man sieht (unterstrichen durch die Kostüme des auch in Film und Fernsehen erfolgreichen Giancarlo Colis) einmal wirklich Demimonde und keinen Ball der feinen Gesellschaft. Vor ihrer großen Arie scheint Violetta von den Abgehenden bedroht zu fühlen. Das Ballett der Stierkämpfer während des Fests bei Flora wurde von Valentina Escobar überzeugend choreographiert und endete sehr effektvoll mit einem die Bühne bedeckenden roten Tuch, aus dem sich die (ungenannt bleibende) Primaballerina geschält hatte. Eine spezielle Führung der Gesangssolisten konnte ich allerdings nicht entdecken.

© Marilena Imbrescia

Das Orchestra Filarmonica Marchigiana stand diesmal unter der Leitung des mir bisher unbekannten Domenico Longo, der eine solide Leistung lieferte, allerdings zuließ, dass die Cabaletta von Tenor bzw. Bariton und Violettas „Addio del passato“ nur einstrophig zu hören waren. In der Titelrolle sah Nino Machaidze phantastisch ausund vermochte den drei verschiedenen Ansprüchen der Partie – Koloratur, Lyrik und Dramatik – gerecht zu werden. Aus den USA erreichte ein weiterer italienischstämmiger Tenor eine europäische Bühne: Anthony Ciaramitaro ließ mit einer trotz lyrischen Timbres kraftvollen Stimme aufhorchen und wurde vom Publikum spontan bejubelt. Wenn nichts dazwischen kommt, scheint eine schöne Karriere vorgezeichnet. Roberto De Candia, der wegen einer hartnäckigen Entzündung fünf Monate pausiert und noch die Premiere dieser Produktion abgesagt hatte, stellte nun seinen noblen Germont vor; allerdings schien er noch nicht ganz auf der Höhe, was durch den wiederholten Griff zum Wasserglas bestätigt wurde. Eine temperamentvolle Flora war Mariangela Marini, während die Annina der Silvia Giannetti weder szenisch noch gesanglich positiv auffiel. Überhaupt waren die Comprimari nicht sehr sorgfältig besetzt, weshalb nur Carmine Riccio (Gastone) als untragbar und Gaetano Triscari als passabler Grenvil erwähnt seien.

© Marilena Imbrescia

Das Publikum erwies sich als applausfreudig und klatschte für die mit den erwähnten Folien geschickt hantierenden Bühnenarbeiter extra Beifall.


La Traviata
Melodramma in tre atti von Giuseppe Verdi

Besuchte Vorstellung: 13. August 2023 (Premiere am 22. Juli)

Regie: Henning Brockhaus
Bühnenbild: Josef Svoboda
Dirigent: Domenico Longo
Orchestra Filarmonica Marchigiana


Das Festival war mit „Carmen“ eröffnet worden, und als Ergänzung dazu wurden am 11. August im von Antonio Galli-Bibiena entworfenen prachtvollen Teatro Lauro Rossi zwei Stummfilme gezeigt: Zunächst CARMEN, vom berühmten Cecil B. DeMille aus 1915 mit Geraldine Farrar in der Titelrolle. Die gefeierte Sängerin spielte so gut und so gar nicht im Stil des Stummfilms, dass man doppelt bedauern muss, dass der Tonfilm bis zur technischen Reife noch rund zehn Jahre benötigen sollte. In diesem Streifen liebt Carmen von Anfang an Escamillo (Pedro de Cordoba, ein Künstlername für diese Rolle?) und führt den armen Don José (Wallace Reid) an der Nase herum. Bizets Musik wird nach Lust und Laune eingesetzt.

© Marilena Imbrescia

Dem 60-minütigen Streifen folgte eine im selben Jahr gedrehte 30-minütige Parodie darauf von Charlie Chaplin, mit dem Titel A BURLESQUE ON CARMEN, in dem Edna Purviance seine Partnerin war und die tragische Schlussszene mit der Wiederauferstehung Carmens endete.

Beide Filme wurden vom Orchestra Filarmonica Marchigiana unter der Leitung von Timothy Brock musikalisch untermalt. Brock hatte im Auftrag des Teatro de la Zarzuela in Madrid die von Chaplin zusammengestellte Partitur Bizets rekonstruiert. Dem Allrounder Charlot ist es gelungen, an genau den richtigen Stellen der Musik Bizets noch eins draufzusetzen und damit seine und der anderen Interpreten Komik noch zu unterstreichen.

© Marilena Imbrescia

Ein Abend der besonderen Art, der vom Publikum sehr goutiert wurde.

Eva Pleus, 22. August 2023