Hamburg: „Nijinsky“, Ballett von John Neumeier

Mit Absicht doppeldeutig wollte die Besucherin verstanden werden, als sie in der Pause am 28. Juni bei der 146. Vorstellung von John Neumeiers Ballett „Nijinsky“ ihrer Begeisterung Luft machte: „Was ist das für ein Wahnsinns-Leben!“ Ja, es ist schon irrsinnig, daß Vaslaw Nijinsky mit Fug und Recht als „Jahrhunderttänzer“ gerühmt werden durfte, als das 20. Jahrhundert gerade mal ein gutes Jahrzehnt alt war. Und die Schizophrenie, unter der er jahrzehntelang litt, hätte man früher in der Tat eher halbwissenschaftlich als „Wahnsinn“ bezeichnet.

Will man denjenigen würdigen, der alle Hauptrollen in den maßgeblichen Ballett-Werken wie „Le spectre de la rose“, „Petruschka“, „Schéhérazade“ und „Les Sylphides“ getanzt hat und dessen Choreographien zu „L’Après-midi d’un faune“ und „Le sacre du printemps“ Tanzgeschichte schrieben, dann braucht es schon einen Choreographen und eine Ballett-Truppe von Weltrang. Mit diesem Anspruch ist man in Hamburg bestens aufgehoben und auch nach bald einem Vierteljahrhundert Aufführungsgeschichte ist dieser biographische Ballettabend oder, wie Neumeier sein Werk nennt, „eine Biographie der Seele, eine Biographie von Erfindungen und Zuständen“, wie bei der Premiere am 2. Juli 2000 packend frisch, aufrüttelnd und begeisternd. Das bewies auch der nahezu ausverkaufte Saal und, dies sei schon vorweggenommen, der tosende, sehr lang anhaltende Applaus, bei dem auch die älteren Semester von ihren Fauteuils gesprungen waren.

© Kiran West

Dieser Beifall galt neben den herausragenden Solistinnen und Solisten vor allem John Neumeier selbst, der mit dieser Produktion sowohl Nijinsky als auch sich selbst und seiner Schule ein sehr persönliches Denkmal gesetzt hat, was in sichtbaren Bezügen deutlich wird.

Der geschätzte Kollege Dr. Ralf Wegner hat in seinem Beitrag eine treffende und detaillierte Beschreibung gerade der solistischen Leistungen abgeliefert, weswegen an dieser Stelle vor allem biographische und inszenatorische Aspekte beleuchtet werden sollen.

Mehrfach hat Neumeier in Gesprächen auf die zentrale Bedeutung des Kreises für Nijinsky hingewiesen, der die Vision von einer kreisförmigen Bühne hatte. Klar – der Kreis ist ein Symbol für die Vollkommenheit und die ersten Theater des archaischen Griechenlands, so Neumeiers Überzeugung, waren auch kreisförmig. Dem Logo des „Hamburg Ballett“, zwei übereinander gelagerte Kreise in unterschiedlicher Größe, die immer wieder als entsprechend geformte Leuchtkörper in „Nijinsky“ in ganz unterschiedlicher Ausrichtung und Kombination erscheinen, liegt ein Bild von Alexander Rodtschenko zugrunde. Neumeier hatte es in einem New Yorker Museum gesehen und seitdem schenkt er den scheidenden Ensemblemitgliedern ein silbernes Schmuckstück in ebendieser Form. Diese Kreise scheinen nach Konzentrizität zu streben, aber es bleibt immer eine Überlagerung mit einer Schnittmenge, eine potentielle Bewegung ineinander und wieder voneinander weg, ohne je die Berührung zu verlieren. Anders in der Aufführung – da gehen die Kreise eigene Wege und treffen sich immer wieder.

Ganz ähnlich sind ja auch die Beziehungen in seinem Tanztheater gestaltet, mit den Tänzerinnen und Tänzern, die sich zueinander hin bewegen, sich ineinander verschlingen, über den gebogenen Rücken voneinander abgleiten und oft in ihre eigene Einsamkeit zurücksinken.

© Kiran West

Auch an diesem Abend wird deutlich, welche Körperbeherrschung darin liegt, wenn bei den Hebefiguren die Tänzer ihre Partnerinnen und Partner ohne sichtbare Kraftanstrengung fassen und emporheben, als wögen sie nichts; die Schwerkraft scheinen die Ensemblemitglieder in ihren schwebenden, fliegenden Bewegungen kaum zu kennen.

Es wäre angesichts der großartigen Gesamtleistungen eigentlich angemessen, alle Mitglieder der Compagnie zu würdigen, aber es stechen gerade in der psychologisch tiefgehenden Darstellung doch Alexandr Trusch als Nijinsky selbst und Aleix Martinez als sein Bruder und sein Schatten bzw. seine gequälte Psyche heraus.

Großartig und voll selenvoller Tiefe sind Alessandra Ferri als seine Frau Romola und Patricia Friza als seine Schwester, die mit großer Innigkeit die Suche nach einem Miteinander mit der Hautperson gestalten.

Karen Azatyan als Goldener Sklave schraubt sich mit Grazie in komplizierte Schulterstände, aus denen er katzenhaft wieder herausgleitet; als Faun gibt er die von Originalphotos bekannte Gestik wieder, die auf antike Vorbilder zu rekurrieren scheint.

Die Selbstgefälligkeit und – nach anfänglicher Öffnung – spürbare Kühle Diaghjilews gibt Edvin Revazov meisterhaft wieder.

Letztlich hat Nijinsky in all seiner ausweglosen Zerrissenheit in den Beziehungen seines Daseins nie zu einer inneren, gemeinschaftlich gelebten Ruhe gefunden, was in den getanzten Seelen- und Bezugsbildern bedrückend deutlich wird. Die für Neumeier typischen abgehackten Handbewegungen und Körperknicke arbeitet mit am eindrucksvollsten Borja Bermudez als Petruschka in seine verzweifelte, gehetzte Puppengestik ein.

© Kiran West

Die Musikauswahl bei dieser Produktion ist oft zu Recht gelobt worden; sie funktioniert deshalb so gut, weil die zentralen Stücke entweder dem Schaffen oder dem Inneren dieses Tänzers entsprechen. Rimskij-Korsakows „Scheherazade“ war für Nijinsky von besonderer Bedeutung und Schostakowitschs 11. Symphonie eignet sich in erschütternder Weise, die Ängste einer bedrohten Seele klanglich wiederzugeben.

Dem Krieg wird in dieser Produktion eine besondere Gewichtung gegeben, was Nijinskys Krankheitsgeschichte angeht. Das wäre psychologisch näher zu untersuchen, denn seine psychische Störung schein tiefer begründet, hängt aber zeitlich mit den Ereignissen beider Weltkriege zusammen.

In jedem Falle gehört zu den stärksten Momenten die Darstellung des Kampfes mit den harten Schlagwerkeinsätzen aus der genannten Symphonie von Schostakowitsch, den dramatisch bewegten Massenszenen und den brutalen Schreien des Protagonisten. Da hatten auch die hartnäckigen Huster zu Beginn dieses zweiten Teils keine Chance, ihr störendes Gekeuche wurde durch die Musik völlig überdeckt. Die gab das Philharmonische Staatsorchester unter der Leitung von Simon Hewett ebenso präsent wie niemals zu laut wieder; gerade die Verbindung aus Orchesterklang, Bewegung und menschlicher Stimme verlieh dem Begriff des Gesamtkunstwerks überragende Gestalt.

Auch das Ende dieser mitreißenden Geschichte ist vom Krieg dominiert; die Handbewegungen der Gesellschaft zitieren mal den Hitlergruß, mal scheinen sie ins Nichts zu stoßen; Wehrmachtssoldaten gehen als ständige Bedrohung immer wieder über die Bühne. Auch die von Nijinsky verkörperten Figuren aus den Balletten tragen nun Uniformjacken und werden in das gewaltsame Geschehen zwangsintegriert. Letztlich endet alles im Tollhaus und im Wahnsinn, was nicht wirklich dem eher ruhigen letzten Lebensabschnitt des Tänzers entspricht. Aber da es Neumeier mehr um ein Seelentheater als eine dokumentarische Wiedergabe von Nijinskys Vita geht, ist das völlig in Ordnung. Man kann sich ja hinterher eingehend mit seiner Biographie voller schillernder Facetten, Brüche, Erfolge und seinem steten Suchen befassen. Das tut man am besten auch vor dem Besuch der nächsten Vorstellung, von denen es glücklicherweise noch fünf gibt.

Unbedingt hingehen!

Andreas Ströbl, 30. Juni 2023


John Neumeier, Ballett „Nijinsky“

Choreographie, Bühnenbild und Kostüme, teils nach Originalentwürfen von Léon Bakst und Alexandre Benois

Musik von Chopin, Schumann, Rimskij-Korsakow und Schostakowitsch

28. Juni 2023

Staatsoper Hamburg

Musikalische Leitung: Simon Hewett

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

Nächste Vorstellungen: 6. Juli, 15., 19. und 30. Oktober sowie 2. November 2023.