Besuchte Aufführung: 29.1.2019 (Premiere: 19.3.2016)
Verschmelzung von Kunst und Realität à la Marthaler
Kein anderes Werk in der Opernliteratur dürfte eine so verworrene Rezeptionsgeschichte aufweisen wie Offenbachs Les contes d’Hoffmann. Dem Komponisten war es nicht vergönnt, sein Werk zu vollenden. Am 5.10.1880 schloss er über der Komposition für immer die Augen. Zu diesem Zeitpunkt lag der Hoffmann nur als Torso vor. Die Orchestrierung war noch nicht beendet und von dem fünften Akt existierten lediglich Skizzen. Die am 10.2.1881 an der Opéra comique in Paris erfolgte Uraufführung war unter diesen Umständen nur in einer äußerst fragmentarischen Bearbeitung möglich. Die hatte Ernst Guirand erstellt. Diese Fassung hielt sich über viele Jahrzehnte auf den Spielplänen der Opernhäuser. Es mutet schon sehr außergewöhnlich an, wie es dem Stück gelang, in einer derart fragwürdigen, zerstückelten Form zu Weltruhm zu gelangen. In den 1970er Jahren ist dann sukzessive immer mehr von dem verschollenen Material ans Tageslicht gekommen, sodass schließlich eine kritische Neuedition der Contes d’Hoffmann möglich wurde. Allerdings war auch diese noch unvollkommen. Indes sind bis zum heutigen Tag immer mehr Originalquellen von Offenbach aufgetaucht. Die Folge war, dass heute immerhin vier Fassungen des Werkes existieren, unter denen die Opernhäuser, die das Werk zu geben beabsichtigen, sich eine aussuchen können. Und die Nachforschungen sind noch nicht abgeschlossen. Am authentischsten ist die Bearbeitung von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck.
Dieser Fassung erteilte allerdings im Jahre 2016, als die Contes d’Hoffmann in Stuttgart neu herauskamen, der damalige musikalische Leiter und GMD Sylvain Cambreling eine Absage. Er erstellte eine sich nah am Originallibretto bewegende Rezitativ-Fassung unter Berücksichtigung auch einiger nicht von Offenbach selbst stammenden Nummern, so beispielsweise Dapertuttos berühmte Diamanten-Arie. Im ersten und zweiten Akt folgt die Stuttgarter Produktion der berühmten Bearbeitung von Fritz Oeser aus den 1970er Jahren, garniert mit einigen Einfügungen aus der Ur-Fassung. Davon profitiert in erster Linie die Figur der Muse, die hier eine extreme Aufwertung erfährt. Cambreling hat Recht, wenn er im Programmbuch die These vertritt, dass die Muse dadurch zur weiblichen Hauptfigur wird. Bei der jetzigen Wiederaufnahme stand Marc Piollet am Pult, der das bestens disponierte Staatsorchester Stuttgart sicher und versiert durch Offenbachs Partitur leitete und zu einem intensiven und gefühlvollen Spiel animierte.
Bei der Stuttgarter Aufführung handelt es sich um eine Co-Produktion mit dem Teatro Real Madrid. Die gelungene Inszenierung von Christoph Marthaler thematisiert geschickt die verschiedenen Arten der Kunst. Dieser Punkt wird in erster Linie anhand des Bühnenbilds deutlich, für das sich Anna Viehbrock von einem der imposantesten Bauten Madrids inspirieren ließ: dem Circulo de Bellas Artes. In diesem hoch eindrucksvollen Gebäude versammeln sich die unterschiedlichsten Kunstformen unter einem Dach, deren verschiedene Aspekte die Bühnenbildnerin gekonnt in einem Raum integriert und zusammengefasst hat. Dieser ist gleichzeitig Kino, Billardzimmer, Zeichensaal, Museum und Café. Der Regisseur spricht im Programmbuch von einer vollkommenen Gleichzeitigkeit geistiger und künstlerischer Produktivität. Bildung und Kultur reichen sich einvernehmlich die Hände und fügen sich zu einer trefflichen Symbiose zusammen. Hier wird Kunst geboren. Einige völlig nackte Frauen posieren für eine Reihe von Studenten als Akt-Models. Der Chor wird als ein mit Textbüchern versehener Gesangverein gedeutet, der von einer asynchron den Takt schlagenden Dirigentin, die sich später als Stimme von Antonias Mutter entpuppt, geleitet wird. Die Tänzer, die sich zeitweilig in sehr grotesken Bewegungen ergehen, fungieren als Ergänzung des Chores. Die eindringliche Choreographie stammt von Altea Garrido, die im fünften Akt in der Partie der Stella dem darob völlig desinteressierten Hoffmann in portugiesischer Sprache – eine deutsche Übersetzung hätte ich vorgezogen – einen von Fernando Pessoas stammenden, bereits im Jahre 1917 in der portugiesischen Zeitschrift Portugal Futurista abgedruckten Text fulminant und mit großer Phonestärke entgegenschleudert. Hier driftet die Produktion ein wenig in politische Gefilde ab. Die stellen in dieser Inszenierung indes einen Fremdkörper dar.
Strenggenommen geht es Marthaler nicht um die Darstellung politischer Inhalte. Vielmehr intendiert er die Aufzeigung einer Surrealität, in der Traum und Wirklichkeit keine Trennung erfahren, sondern stets zusammenwirken. Logisch wirkt hier eigentlich gar nichts. Auf äußerst bizarre Weise verschmelzen Kunst und Realität miteinander. Durch eine im Hintergrund aufragende Uhr ohne Zeiger wird deutlich, dass sich das Geschehen jenseits der Zeit abspielt, auch wenn man die zur Schau gestellte Örtlichkeit auf den ersten Blick zu Beginn des 20. Jahrhunderts verorten kann. Von Realität kann hier eigentlich an keiner Stelle die Rede sein. Die Rahmenhandlung hat ebenfalls einen imaginären Touch. Alles ist hier als Kopfgeburt Hoffmanns zu begreifen, als Tagtraum, in dem er die Visionen seiner drei Geliebten heraufbeschwört. Diesen ordnet der Regisseur unterschiedliche Fixpunkte zu: Die wenig puppenhaft, sich recht menschlich gebende und leicht schüchtern wirkende Olympia entsteigt einer mobilen Litfasssäule, Antonia thront auf einem Podest und Giulietta wird eine Reihe von Billardtischen zugeordnet. Letztere finden noch anderweitige Verwendungen. In einem von ihnen entsorgt Hoffmann im Venedig-Akt seinen zuvor mit einer Flasche ins Jenseits beförderten Kontrahenten um die Gunst der Kurtisane Schlemihl. Ein weiterer dient der Muse als Abfalleimer für leere Schnapsflaschen.
Altea Garrido (Stella)
Als spiritus rector fungiert bei Marthaler allerdings nicht der dem Alkohol frönende Dichter Hoffmann, sondern der in einem langen weißen Kittel auftretende Spalanzani, der hier enorm aufgewertet wird. Marthaler interpretiert ihn nicht nur als Physiker, sondern in gleichem Maße auch als Museumsführer und Pathologen. Bereits zu Beginn führt er eine Schar von Touristen über die Bühne. Später wandelt er immer wieder mit Puppen-Bestandteilen durch den Raum und rollt auch einmal auf einem Wagen einen mit einem Tuch bedeckten Körper herein. Mit einer Fernbedienung lenkt er das gesamte Geschehen. Auch der Chor, in dem einige Damen mit Rauschebart und manche Männer im Kleid erscheinen – eine lustige Groteske! – erscheint als Geschöpf des Wissenschaftlers. Das Licht im Zuschauerraum und der Hauptvorhang gehorchen ebenfalls seiner Regie. Als sich Hoffmann mit Spalanzanis Einverständnis einmal an dessen verschiedenen Fernbedienungen versucht, ist ihm damit kein Erfolg beschieden. Mit Technik hat er eben nichts am Hut. Diese Szene stellt eine recht heitere Einlage dar. Neben ernsten Momenten kam in dieser Inszenierung auch der Spaßfaktor nicht zu kurz. Insgesamt haben wir es hier mit einer gelungenen, kurzweiligen Produktion zu tun, an der neben Marthaler auch noch Joachim Rathke mitgearbeitet hat. Letzterer besorgte auch die szenische Leitung der Wiederaufnahme.
Mit den Sängern konnte man zum großen Teil zufrieden sein. Ein überzeugender Hoffmann war Atalla Ayan, der mit intensiver Darstellung und einem gut fokussierten, virilen und farbenreichen Tenor ein packendes Rollenportrait schuf. Übertroffen wurde er von Adam Palka, der mit wunderbar sonorem, trefflich sitzendem und ausdrucksstarkem Bass die vier Gegenspieler Hoffmanns Lindorf, Coppélius, Dr. Mirakel und Dapertutto sang, die er auch ansprechend spielte. Angela Brower hat sich als Muse nicht zu Hoffmanns Freund Nicklausse gewandelt, sondern blieb äußerlich immer eine Frau. Vokal gefiel sie mit leidenschaftlichem, emotional angehauchtem und tadellos fundiertem Mezzosopran. Eine tiefgründig klingende, sehr koloraturgewandte und bis in die höchsten Spitzentöne sicher intonierende Olympia war Lisa Mostin. In der Doppelrolle von Antonia und Giulietta hinterließ die weich und geschmeidig, dabei mit vorbildlicher Italianita singende Olga Busuioc einen bleibenden Eindruck. Prachtvoll und sehr einfühlsam gab Maria Theresa Ullrich die Stimme der Mutter. Mit variablem Stimmsitz wartete Kai Kluge als Andrès, Cochenille, Franz und Pitichinaccio auf. Markant klang der Schlemihl von Andrew Bogard. Ein maskig intonierender Nathanael war Moritz Kallenberg. Da war ihm sein Kollege Pawel Konik als Hermann überlegen. Jenseits von Gut und Böse bewegte sich der sehr schauspielerisch singende Spalanzani Graham F. Valentine s. Darstellerisch war er besser. Der die Doppelrolle von Luther und Crespel ansprechend bewältigende Matthew Anchel rundete das homogene Ensemble ab.
Keine Wünsche blieben wieder einmal bei dem von Bernhard Moncado hervorragend einstudierten Staatsopernchor Stuttgart offen.
Fazit: Eine empfehlenswerte Aufführung, die anzusehen gelohnt hat.
Ludwig Steinbach, 31.1.2019
Die Bilder stammen von A. T. Schaefer