Kassel: „Andrea Chénier“

Premiere: 09.09.2017

Fast bieder und mit überraschendem Finale

Lieber Opernfreund-Freund,

der aus Apulien stammende Umberto Giordano ist einer der wenigen Komponisten, die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert neben dem omnipräsenten Puccini gewisse Erfolge mit ihren Werken erzielen konnten. Doch von seinen 14 Opern konnte sich nur das Revolutionsdrama „Andrea Chénier“ dauerhaft auf den Bühnen der Welt etablieren. In Deutschland vergleichsweise selten gespielt, ist es nun seit gestern am Staatstheater Kassel zu erleben.

Am Vorabend der französischen Revolution wird im Hause der Gräfin di Coigny ein großes Fest vorbereitet. Der Diener Gérard ist heimlich in Maddalena, die Tochter seiner Herrin, verliebt, hasst jedoch den Adel und hat sich dem sich aufbäumenden Volk angeschlossen. Zum Fest erscheint auch der freigeistige Dichter Andrea Chénier, von dem Maddalena fasziniert ist. Fünf Jahre später ist die Revolution in vollem Gange. Maddalena versteckt sich nach der Ermordung ihrer Familie in Paris und schreibt anonyme Briefe an Andrea. Doch Gérard, mittlerweile im neuen Regime etabliert, lässt nach ihr suchen.

Bei einem geheimen Treffen offenbart sich Maddalena dem angebeteten Dichter. Der hinzutretende Gérard wird von Andrea im Kampf verletzt, verrät aber den Dichter nicht, sondern bittet ihn, Maddalena zu beschützen. Dennoch wird der Poet wenig später festgenommen, Maddalena verspricht sich Gérard, wenn er eine Verurteilung von Chénier verhindert. Doch es ist zu spät. Maddalena kann Andrea nur noch einmal im Kerker besuchen und nimmt, als die Verurteilten zum Schafott gehen, freiwillig den Platz einer jungen Mutter ein und schreitet statt ihrer zusammen mit ihrem Geliebten dem Tod entgegen.

Mit der szenischen Umsetzung dieses Dramas um Freiheit, Intrige und Liebe hat man Michael Schulz verpflichtet, seines Zeichens Intendant des Musiktheaters im Revier. Der entschließt sich zu einer vergleichsweise traditionellen, fast bieder wirkenden Lesart. Den ersten Akt lässt er herrlich überzeichnet in puderfarbenen Rokkokokostümen und aufgepluderten Perücken spielen, die von Renée Listerdal stammen.

Ab dem zweiten Bild schleichen sich auf der wunderbar verwandlungsreichen Bühne von Dirk Becker nach und nach Aktualisierungen in Form von Verkehrsschildern, Handys und Laptops ein, ehe der Finalakt komplett in unserer Zeit angekommen scheint und darüber hinaus noch mit einem durchaus stimmigen Schluss aufwartet, der vom Libretto abweicht. Auch verdeutlicht der versierte Theatermann gekonnt, dass Chénier eigentlich gar nicht Maddalena zu lieben scheint, sondern eher ihre Bewunderung für ihn und seine Ideen und Gedanken. Und doch werden diese Interpretationen zusammen nicht richtig rund, bleiben ohne Mehrwert für das Werk und so nur nette Bebilderung der Geschichte.

Auf der Bühne zeichnet Rafael Rojas die Titelfigur als im Wesentlichen in sich selbst und seine Ideen verliebten, vergeistigten, fast emotionslosen und irgendwie der Welt entrückten Poeten, zeigt stimmliche Kraft und sichere Höhe, auch wenn das nicht immer ohne Anstrengungen vonstatten zu gehen scheint. Anstrengung hingegen scheint Vida Mikneviciute fremd. Die junge aus Litauen stammende Sängerin hatte mich in der vergangenen Spielzeit bereits als Blanche in Poulencs „Dialogues des Carmèlites“ in Mainz tief berührt und meistert auch als Maddalena in Kassel scheinbar mühelos den Spagat zwischen umwerfender Bühnenpräsenz, stimmlicher Farbtiefe und tiefem Sentiment. Dazu verfügt sie über ebenso viel darstellerisches Talent wie ihr Kollege Hansung Yoo.

Das südkoreanische Ensemblemitglied zeigt seinen farbenreichen Bariton voll eindrucksvoller Durchschlagskraft, so dass Carlo Gérard in ihm den idealen Darsteller findet. Lona Culmer-Schellbach überzeugt als gebrochene Madelon mehr als als überdrehte Contessa, Marie-Luise Dreßen ist eine aufgeweckt-quirlige Bersi und Daniel Jenz macht als schmieriger Spitzel Incredible nicht nur eine gute Figur, sondern auch nachhaltig Eindruck mit seinem feinen Tenor. Hee Saup Joon gibt mit imposantem Bass den Matieu und auch der Rest des Ensembles ist durchweg gut besetzt. Der Chor, von Marco Zeiser Celesti betreut, komplettiert den Reigen der überzeugenden Sangesleistungen.
Das Staatstheater Kassel hat seit dieser Spielzeit einen neuen GMD. Am Pult des Staatsorchesters Kassel gab gestern Francesco Angelico seinen gelungenen Einstand. Der Italiener legt viel Herzblut in sein Dirigat, erweckt Giordanos melodienreiche Partitur gekonnt und seelenvoll zum Leben und legt den Sängern einen farbenreichen Klangteppich aus.

Im ausverkauften Haus ist man begeistert von dieser ersten Spielzeitpremiere und auch ich kann Ihnen diese Produktion guten Gewissens ans Herz legen. Überzeugt mich auch die Regie nicht auf ganzer Linie, so tut dies die musikalische Seite umso mehr. Kassel ist mit diesem „Andrea Chénier“ also auch nach der Documenta noch eine Reise wert.

Ihr Jochen Rüth 10.09.2017

Die Fotos stammen von Nils Klinger.