Kassel: „Die tote Stadt“

Premiere am 23.04.2016

Von bezwingender Stringenz

Sie gehört zweifelsohne zu den anspruchsvollsten Tenorrollen der Opernliteratur, die Partie des Paul in Korngolds phänomenaler Oper DIE TOTE STADT. Wenn man nun, wie das am Staatstheater Kassel der Fall war, diese Rolle so exzellent zu besetzen in der Lage ist, dann steht einem bewegenden, aufwühlenden Opernerlebnis mit dieser rauschhaften, ekstatisch-erotischen Partitur aus der Feder des zum Zeitpunkt der Komposition knapp 20jährigen, "letzten" Wunderkinds der klassischen Musikwelt nichts mehr im Wege.

Charles Workman ist dieser Sänger, welcher mit seiner wunderbaren Stimme und seiner feinfühligen Gestaltung das Premierenpublikum in Kassel zu Begeisterungsstürmen hinzureissen vermochte. Mühelos meisterte der Sänger die oft unangenehm hohe Tessitura, berückte die Zuhörer mit fantastisch tragfähigen Piani, sauberer Intonation auch in diffizilsten Passagen, biegsam und weich phrasierend und doch die Kraft aufbringend für ekstatische Ausbrüche erotischer oder religiös verschrobener Verzückung. Nie musste er forcieren oder stemmen, alles wuchs organisch aus der perfekten Stütze. Geradezu zu sonnen schien er sich auf den vielen langen Notenwerten – da bröckelte nichts ab, jeder Ton war ungemein sauber und mit phänomenaler Intensität aufgeladen. Berückend und rührend bis zur letzten Reminiszenz an "Glück, das mir verblieb". Doch nicht nur vor der sängerisch-musikalischen Leistung von Charles Workman (meine Zürcher Opernfreunde werden sich an ihn als verführerischer Jupiter an der Seite von Cecilia Bartoli in Händels SEMELE erinnern) darf man sich verneigen, auch seine Darstellung dieses krankhaft Besessenen war restlos überzeugend.

Der gross gewachsene, blendend aussehende Sänger füllte die Rolle begeisternd aus. Schlaksig, jungenhaft sein erster Auftritt, voll freudiger Erwartung das erste Zusammensein mit Marietta, in welche er Marie projizierte, später angewidert seine Enttäuschung über ihr flatterhaftes Wesen ausdrückend, erotisch aufgeladen die sexuelle Vereinigung, krankhaft in der Raserei und der religiösen Verblendung im Alptraum, die kathartische Wirkung des Traums begreifend in der Schlussszene, wo er unsicher schwankend ins Dunkel abgeht. Dabei hatte es ihm der der Regisseur dieser Produktion, Markus Dietz, wahrlich nicht einfach gemacht. Denn Paul musste nicht nur mit Marietta interagieren, auch seine verstorbene Frau Marie (Eva-Maria Sommersberg gelang mit der Darstellung dieser stummen Rolle eine Glanzleistung von beklemmender Intensität!) war auf der Bühne dauerpräsent. Als Marietta begeisterte Celine Byrne mit silbern glänzendem, hellem und klarem Sopran, spritzig und voller Lebenslust in der Darstellung. Traumhaft zart und mit exemplarischer Pianokultur intonierte sie die erste Strophe von "Glück, das mir verblieb", prall ihre Darstellung in der Komödiantenszene, himmlisch schön und rein das "… errang mir an mich selbst den Glauben".

Zu Tränen rührend war auch ihr nur leicht elektronisch verfremdeter Gesang als Stimme der Marie am Ende des ersten Bildes. Pauls Freund Frank hat zwar keine eigene grössere Szene zu singen, aber in der Darstellung durch Marian Pop erlangte er in dieser Inszenierung doch bemerkenswertes Gewicht. Marian Pop zeichnete sich nicht nur mit seinem kernigen Bariton aus (die Diktion könnte noch etwas klarer sein), sondern vor allem durch seine sehr genau auf den Text abgestimmte Mimik und Gestik – ein echter Freund eben, fast ein Zwillingsbruder Pauls, attraktiv und schlank auch er – glaubhaft und reell. Marta Herman sang eine solide (sehr jugendlich erscheinende) Haushälterin Brigitte, mit schön jubelnder Höhe im Arioso des ersten Bildes und (für meinen Geschmack) etwas viel Vibrato in der tieferen Lage. Sehr gut gelungen dann aber ihr zweiter Auftritt mit den Beghinen im zweiten Bild. Dass sie sich in schwarzer Seidenunterwäsche den Nonnen anschloss, passte natürlich zum Alptraumhaften der Szene! Und dass Frank in der Schlussszene seine Worte "Kommst du mit mir weg aus der toten Stadt" erst an Brigitte und nicht an Paul richtete, machte dann auch wieder Sinn, so wegen Seidenunterrock…

Immerhin galt sein zweiter Blick dem Freund! Aus der Komödiantentruppe rund um Marie ragt natürlich Fritz, der Pierrot, heraus, welcher mit "Mein Sehnen, mein Wähnen" den zweiten ganz grossen Hit der Oper singen darf. Und wenn dieses Lied mit solch tief rührender Anmut und unprätentiöser Schlichtheit gesungen wird wie in Kassel von Hansung Yoo, dann würde man es am liebsten gleich nochmals hören wollen. Die perfekte Sanftheit der Stimmführung und die wunderbare Sonorität der tieferen Lage versetzte nicht nur den Paul, sondern auch den Zuhörer im Saal, in einen hypnotischen Zustand! Grandios! Sehr gut und quirlig auch die Juliette von Lin Lin Fan und die Lucienne von Maren Engelhardt, sowie der Victorin von Jun-Sang Han (tolle Tenorstimme!) und der Graf Albert von Johannes An.

Maestro Patrik Ringborg und das Staatsorchester Kassel blieben der ekstatischen Partitur nichts an spätromantischen Schwulst (das ist beileibe nicht pejorativ gemeint!) schuldig. Schön, dass der Klangteppich aus dem Graben nie zu dick und zu schwer klang, sondern eine exquisite Transparenz bewahrte und die Sänger so in keinem Moment zum Forcieren verführte! Einige Patzer des Blechs werden sich in den kommenden Aufführungen bestimmt noch legen. Aus dem Opernchor und dem CANTAMUS-Chor des Staatstheaters Kassel liessen insbesondere die lupenrein intonierende Kinderstimmen aufhorchen!

Von bezwingender Stringenz war die in eine nicht näher bestimmte Gegenwart verlegte Inszenierung von Markus Dietz, dem insbesondere mit den Porträts von Paul, Marietta, Marie und Frank feinsinnige Charakterzeichnungen gelangen. Der überaus funktional gestaltete Bühnenraum von Mayke Hegger vermochte genauso zu überzeugen wie die passenden Kostüme von Henrike Bromber.

Kongenial unterstützte auch die stimmungsvolle Lichtgestaltung von Albert Geisel die Szenerie. In dem sich in die Tiefe stark verjüngenden Raum, welcher durch eine weisse Regalwand unterteilt war, auf welcher sich die Memorabilia an Marie verteilten, spielte sich die Handlung ab. Hinter der Regalwand konnte eine Leinwand für Projektionen der Verstorbenen heruntergefahren werden, die Bodenelemente der Hinterbühne liessen sich vertikal verschieben und boten so Raum für Chorauftritte und beängstigende Szenen, in welchen Paul der Boden unter den Füssen regelrecht wegzubrechen drohte. Ganz starke Bilder prägten die Heilig-Blut-Prozession, mit den Kindern, deren Gesichter mit schwarzen Kreuzen verunstaltet waren, oder der blutüberströmten Marie, welch wie der Erlöser am kalt-weiss leuchtenden Neonkreuz hing, während sich blutige Hände erst nach oben reckten und darauf die grauen Wände von Pauls Wohnung mit ihrem Blut beschmierten. Paul verfiel darauf in seine von religiösem Wahn besessene Raserei, erwürgte Marietta mit Maries goldenem Haarzopf und erwürgte schliesslich als Katharsis das omnipräsente Phantom seiner Marie. Und doch: So ganz sicher war man sich bei genauerem Nachdenken über das Gesehene und Erlebte plötzlich nicht mehr, ob da nicht doch noch mehr war, als bloss ein Alptraum…

Kaspar Sannemann 25.4.16

Bilder (c) Staatstheater Kassel / Klinger

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