Meiningen: „Die Dreigroschenoper“, Bert Brecht und Kurt Weill

Brecht gab sich vordergründig als Kommunist, als einer, der den ausbeutenden Kapitalismus in der Weimarer Republik anprangerte. Doch galt er selbst kaum als soziales Vorbild, eher als Salonkommunist. Denn alles andere als uneigennützig verkaufte er sich knallhart als Stückeproduzent, kultivierte seine Marke „Brecht“ und bediente sich mit einer Selbstverständlichkeit an Menschen und Materie. Die Idee, der Gesellschaft, in der kein Raum für Menschlichkeit oder echte Gefühle ist, den Spiegel vorzuhalten, würde auf der Bühne kaum funktionieren, wenn er nicht in dem Komponisten Kurt Weill einen idealen Partner gefunden hätte. Die geniale Mischung aus Jazz, Blues, Tango, Jahrmarktsmusik, Chorälen, Oper, Balladen und Songs waren das perfekte Gleitmittel für Brechts Botschaften. Parodie, überzeichnete Figuren und Situationen führen dem Publikum seine bürgerliche Gesellschaft vor, in der es lebt.

(c) Christina Iberl

Die Handlung, überschaubar und fast trivial, spielt im Londoner Stadtteil Soho im Jahre 1838 in der Woche der Krönungsfeierlichkeiten Queen Victorias. Das Vorspiel übernimmt ein Moritatensänger, der zu Beginn an den Bühnenrand kriecht und die Taten des spektakulären Verbrechers Macheath, genannt Mackie Messer, besingt. Anschließend beklagt sich sein Gegenspieler Jonathan Peachum, der mit einem Unternehmen für organisierte Bettelei gut verdient hat, dass die Geschäfte schlechter laufen. Seine Frau Celia, die dem Alkohol nicht abgeneigt ist und entsprechend aussieht, erzählt ihm, dass ihre Tochter Polly sich mit Macheath trifft. Dieser lässt inzwischen seine Räuberbande los, um alles Nötige für seine Hochzeit mit ihr zu organisieren. In einem Pferdestall, grell beleuchtet mit „Gangsta‘s Paradise“, findet die Zeremonie recht improvisiert und unspektakulär statt: der Bräutigam im goldenen Anzug, die Braut im weißen Babydoll-Hängerchen mit Totenkopf, die Bande in weißen Anzügen und mit weißen Pagenfrisuren. Sogar der Pastor schneit herein, um dem Gangster zu gratulieren und mit dem Sauhaufen ein Stück Pizza zu vertilgen. Polizeichef Tiger Brown, ein Jugendfreund Mackies, kreuzt auf und es ist nicht zu übersehen, welche Gefühle er für ihn hat. Mit dem Motto „Eine Hand wäscht die andere“ fahren beide nicht schlecht.

(c) Christina Iberl

Polly, quietschvergnügt und stolz auf ihren Fang, singt ihr Lied von der Seeräuber-Jenny und zeigt, dass sie mit ihren Rachephantasien gut in diese Kreise passt. Als sie ihren Eltern von ihrer Heirat berichtet, ist Peachum entsetzt und verlangt vergeblich, dass sie sich sofort wieder scheiden lässt. Also bleibt nur der Plan, ihn anzuzeigen und an den Galgen zu bringen. Weil Macheath regelmäßig zu den Huren geht, wird Celia Peachum dafür sorgen, dass er von den Damen verraten und dort verhaftet wird. Polly warnt ihren Mann und beschwört ihn, weit weg zu fliehen. In der Zwischenzeit soll sie die Geschäfte weiterführen. Tatsächlich geht er noch ins Bordell und seine ehemalige Freundin Jenny verrät ihn. Im Gefängnis Old Bailey hilft ihm auch Tiger Brown nicht mehr. Da erscheint dessen Tochter Lucy, die ein Verhältnis mit Mackie hatte und behauptet, schwanger zu sein. Polly kommt dazu und beide Frauen fallen übereinander her. Er hält zu Lucy und sie verhilft ihm zu Flucht. Peachum fordert inzwischen von Brown das Kopfgeld, das auf den Gangster ausgesetzt wurde, wird aber festgenommen. Doch er kommt frei, weil er damit droht, dass alle Bettler Londons die Krönungszeremonie stören werden und verrät schließlich, wo sich Macheath aufhält. Die Huren fordern ihren Lohn von den Peachums, dafür dass sie Mackie verpfiffen haben und werden vermutlich leer ausgehen. Polly und Lucy nähern sich inzwischen etwas an und sie beichtet, dass die Schwangerschaft nur vorgetäuscht war. Die Männer seien es nicht wert, dass man sich wegen ihnen grämt. Mackie wird wieder verhaftet, fast wie Christus am Kreuz angekettet und wartet nun auf seine Hinrichtung. Der Polizist bewacht ihn und würde ihn ja freilassen, aber keiner der Räuberbande und keine der Frauen ist bereit, ihm dafür Geld zu geben. Auch Brown wendet sich ab. Alle kommen nun, um sich von ihm zu verabschieden, recht distanziert und scheinbar unbeteiligt. Mackie sieht nun dem Tod ins Gesicht, fast sentimental, und scheint sogar etwas Reue zu empfinden. Da schwebt ein Bote ein und verkündet seine Begnadigung und die Erhebung in den Adelsstand verbunden mit einem höchst interessanten Finanzpolster. Mit einem Choral am Ende nehmen Peachum und seine Opportunisten, die nun die Seiten gewechselt haben, Aufstellung und präsentieren ihre neue Firma: „MC Peachum TM“.

(c) Christina Iberl

Mackie Messer, den größten Gewaltverbrecher Londons, mit Leo Goldberg zu besetzen, ist ungewöhnlich. Diesem feingliedrigen Typus, schmal, blass und windig mit Hang zum Narzissmus, nimmt man die Rolle kaum ab. Er erscheint introvertiert und keinesfalls als Führungsfigur. Sein goldener Anzug, die schwarzen Locken, seine Haltung stehen im Widerspruch zu seinem Ruf. Er ist kein Macho, kein Täter und man fragt sich, wie er es geschafft hat, tatsächlich eine Räuberbande zu organisieren. Auch die wirkt eher smart statt hart und in ihren modischen weißen Anzügen mit weißen Beatles-Frisuren auch für das Cover von „Abbey Road“ geeignet. Albern statt gefährlich, wirken sie fast wie pubertäre Jungs. Aber das täuscht, harsche Worte und Frechheit zeigen, dass sie sich ihrer Bedeutung sehr bewusst sind.

Ganz anders Jonathan Peachum: Er ist der Macher, strotzt vor Selbstbewusstsein und Arroganz und ist der, der die Fäden zieht. Michael Jeske spielt diese Rolle in all ihrem Nuancenreichtum in überbordender Präsenz und signalisiert echte Macht und Autorität. Der lila Seidenanzug spannt über dem gewaltigen Bauch, die Glatze glänzt und das Doppelkinn hängt schon bedrohlich aus dem Kragen. Sein Geschäft scheint einträglich zu sein. Er ist von einer Eloquenz, der keiner etwas entgegen zu setzen weiß. Einzig seine Frau Celia kann sich behaupten. Christine Zart mit gewaltigerschwarzer Mähneist die ideale Geschäftspartnerin, die ihr Ding eiskalt durchzieht. Rote Lacklederstiefel, ein viel zu enges Strickkleid, ein Lackledermantel in Orange mit Federn zeigen ihren Geschmack. Emotionslos, nur auf Profit bedacht, lenkt sie die Geschicke. Ihre verwöhnte Tochter Polly hat den Hang nach unten und findet es natürlich cool, dass ihr ein so berühmter Gangster nachsteigt. Emma Suthe spielt dieses quirlige und affektierte Wesen, ständig in Bewegung, temperamentvoll mit vollem Körpereinsatz. Schwarze Stiefel, gebauschte Röckchen, mal weiß, mal rot, mal grün im Babydoll-Stil, helle Pagenfrisur und grelle Schminke stilisieren sie zu einem Paradiesvögelchen. Ihre hohe Stimme ersetzt jede Sirene. Weit weniger albern erscheint Lucy Brown. Die Tochter des Polizeichefs, verkörpert von Carmen Kirschner, hat Power und weiß, was sie will. Mit gelber Mähne, schwarzweißem Look und gelbgestreiften Strümpfen ist sie äußerst attraktiv. Angeblich von Mackie schwanger, fordert sie ihre Rechte. Ihr Vater Jack Brown ist die personifizierte Doppelmoral. Vivian Frey spielt diesen gespaltenen Menschen sehr augenfällig und überzeugend. Hier gelingt es dem Publikum wohl am wenigsten, Distanz zu wahren. Die tragischste Figur ist Anja Lenßen als Spelunken-Jenny. Einst Mackies vertrauteste Lebensabschnittsgefährtin, versauert sie jetzt im Bordell. Im viel zu kurzen Strickkleid mit schlecht sitzenden Strapsen wirkt sie abgetakelt, fett und schlampig. Die rote Mähne, der verschmierte Lippenstift und die resignierte Haltung zeigen, dass ihre besten Tage vorbei sind.

(c) Christina Iberl

Damit das Publikum sich nicht häuslich auf der Bühne einrichtet, mit- oder sich wohlfühlt, hatte Brecht die Idee des „Epischen Theaters“. Die Handlung wird sowohl erzählt wie gespielt. Verfremdungseffekte unterbrechen immer wieder den Gang des Geschehens. So wenden sich die Schauspieler direkt an das Publikum und kommentieren die Ereignisse. Songs werden vorgetragen, Plakate mit Texten lenken die Aufmerksamkeit und das Bühnenbild hält Überraschungen bereit. So könnte der Zuschauer aus einer gewissen Distanz zur kritischen Auseinandersetzung über die Zustände in der Gesellschaft gebracht werden.

Regisseur Georg Schmiedleitner hat klugerweise auf Realismus und Naturalismus verzichtet und in die expressionistische Trickkiste gegriffen. Die Kunst des gesteigerten Ausdrucks zeigt sich in plakativen Kulissen. So prangen ein riesiger männlicher Schädel mit Haifischfresse und Euroaugen über der Bühne und das Gegenstück, ein weibliches Pendant, mit Leuchtaugen und einem Messer über den Lippen. Dann wieder verdecken Schnüre oder Plastikstreifen den Hintergrund, wenn das Geschehen an der Rampe stattfindet. Die Drehbühne hat ihr Eigenleben, dreht sich rasant und scheucht Akteure wie Zuschauer. Die verrückten Kostüme, die grell und grotesk geschminkten Gesichter sind Ausdruck innerster Gefühle oder Eigenschaften. Bühnenbildner Stefan Brandtmeyer und Kostümbildnerin Cornelia Kraske konnten sich zwar frei austoben, aber schufen dennoch ein Szenario, das passt. Fast kommt man sich vor, als säße man in einem Zirkus. Auch in der Musik bedeutet Expressionismus extreme Tonlagen, extreme Klänge und extreme Lautstärke. Multi-Instrumentalistin Bettina Ostermeier und ihre Group sind die eigentlichen Stars des Abends. Sie sind es, die das gesamte Geschehen durch eine hochkarätige und fesselnde Performance in Klang und Szene setzen. Hier wird keine Nummernrevue runtergespielt, sondern das, was sichtbar und unsichtbar ist, raffiniert vertont. Und das muss Brecht Weill neidlos zugestehen: Ohne dessen Musik wäre die Dreigroschenoper niemals ein Erfolg geworden, geschweige denn fast 100 Jahre später immer noch so populär.

Was nimmt der Zuschauer aus Meiningen mit? „It was Showtime“ mit schrillen Figuren in einem schillernden Bühnenzirkus bei mitreißender Musik. Impulse zur Gesellschaftskritik, Moral – war da was? Im Gegenteil. Beschwingt und angeregt geht man nach Hause mit dem beruhigenden Gefühl: Jeder darf sich sein Stück vom großen Kuchen nehmen, skrupellos und egal, um welchen Preis.

Inge Kutsche, 27. März 2023


Die Dreigroschenoper

Text: Bert Brecht

Musik: Kurt Weill

Besuchte Premiere: 24. März 2023

Regie: Georg Schmiedleitner

Musikalische Leitung: Bettina Ostermeier

Orchester der Meininger Oper

Weitere Vorstellungen: 30.03. | 02.04. | 05.04. | 16.04. | 28.04. | 19.05. | 27.05. | 03.06. | 10.06. | 17.06. | 02.07. | 07.07.2023