Bremerhaven: „Der fliegende Holländer“

Premiere am 29.10.2016

Das Elend der Welt

Bei der Pressekonferenz zum Programm der neuen Spielzeit meinte Generalmusikdirektor Marc Niemann, dass der „Fliegende Holländer“ die einzige Wagner-Oper sei, die man in Bremerhaven seriös spielen könne. Tatsächlich taucht Wagner selten im Bremerhavener Spielplan auf – zuletzt 2001. Und auch da war es „Der fliegende Holländer“, ebenso 1991. Trotzdem soll man nicht vergessen, dass es etwa 1979 einen „Tannhäuser“ und 1983 einen sehr respektablen „Lohengrin“ mit Horst Hoffmann in der Titelpartie gab. Es geht also schon, wenn auch nur mit großer Kraftanstrengung.

Nun also zum dritten Mal in Folge der „Holländer“. Regisseur Matthias Oldag hat für seine Inszenierung teils faszinierende, teils rätselhafte Bilder gefunden. Im Programmheft sind die einzelnen Akte mit „Das Meer“, „Die Welt“ und „Der Tod“ überschrieben. Entsprechend ist die Bühnenausstattung von Anna Kirschstein ausgefallen. Sie ist mit ihrer in tiefstes Blau getunkten Projektion von sturmbewegten Wellen und Wolken von zentraler Bedeutung und Wirkung. Davor befindet sich ein schwankender Schiffsboden, auf dem halbtote Menschen liegen. Ist Dalands Schiff ein Sklavenschiff und Daland ein Schlepper? So abgefeimt und schmierig, wie Leo Yeun-Ku Chu die Figur gestaltet, liegt diese Vermutung nahe. Im zweiten Akt erblickt man eine Art Leichenhalle. Die dort tätigen Frauen sind mit ihren Springerstiefeln alles andere als Fabrikarbeiterinnen. Und die auf Paletten gestapelten Waschmaschinen sind nur Alibi und sollen über die tatsächlichen Geschäfte wie Menschenhandel hinwegtäuschen. Mary (Carolin Löffler) ist die sehr flittchenhafte Gespielin Dalands. Einzig Senta (Agnieszka Hauzer) ist anders und zeigt Empathie für ein gerade herein geschlepptes Mädchen. Sie selbst leidet offenbar unter epileptischen Anfällen.

Im dritten Akt stehen oben die Mannen Dalands aufgereiht zum Rudelsaufen, während von unten die Gespenstermannschaft des Holländers (effektvoll wie für die Geisterbahn zurechtgemacht) hochgefahren wird. Ein sehr eindrucksvolles Bild!

Der Holländer (Joachim Goltz) ist hier wirklich der „bleiche Mann“. Bei seinem ersten Auftritt färben sich die Wellen blutrot. Man denkt unwillkürlich an Dracula oder Nosferatu. Er ist offensichtlich nicht nur verbittert über sein eigenes Schicksal, sondern auch angeekelt vom Elend der Welt. Hoffnung auf Erlösung hat er kaum. Wenn er vom „Engel Gottes“ singt, ist nichts Weiches oder Tröstliches in seiner Stimme. So gibt es am Ende auch kein verklärtes Finale. Senta bleibt allein zurück und übergießt sich mit Benzin. Sie „brennt“ im wahrsten Sinne des Wortes für ihre fixe Idee.

Bremerhaven kann mit einer ganz hervorragenden Besetzung für den Holländer und für die Senta überzeugen. Joachim Goltz gibt mit virilem Heldenbariton dem getriebenen Seefahrer alle Verzweiflung und alle Sehnsucht dieser Welt mit. „Die Frist ist um“ fesselt von der ersten bis zur letzten Note. Agnieszka Hauzer führt als Senta einen ausgesprochen voll und rund klingenden Sopran ins Feld. Da gibt es auch in der Höhe keinerlei Verfärbungen oder Einbußen. Einzig ihre Textdeutlichkeit könnte noch etwas besser sein. Beider Duett „Wie aus der Ferne längst vergang’ner Zeiten“ wird zum Höhepunkt der Aufführung. Leo Yeun-Ku Chu gibt als Daland von Anbeginn an den Schurken vom Dienst. Entsprechend ruppig-expressiv und manchmal bewusst auf Kosten einer schönen Gesangslinie gestaltet er die Partie, ist aber dafür stets von ausdrucksvoller Präsenz. Tobias Haaks legt den Erik mit kraftvoll geführtem Tenor als hitzköpfigen Liebhaber an, der aber gegen Sentas Besessenheit ohnmächtig ist. Die Figur der Mary geht oft etwas unter – nicht bei Carolin Löffler, die schon rein optisch für eine deutliche Aufwertung sorgt. Als Steuermann (in Unterhosen) bewährt sich Thomas Burger mit hellem, schlankem Tenor.

Chor und Extrachor sind bei dieser Oper besonders gefordert. Die Einstudierung von Anna Milukova war hervorragend. So klangvoll und schlagkräftig wie die Aufgabe hier bewältigt wird, kann man es an einem Haus dieser Größenordnung selten erleben.

Leider hatten die Bremerhavener Philharmoniker nicht ihren besten Tag. Schon der erste Horn-Einsatz ging daneben, gefolgt von manch weiterem Patzer. Die Ouvertüre machte durchweg einen „lärmenden“ und wenig differenzierten Eindruck. Gleichwohl war die formende Hand von Marc Niemann am Pult stets spürbar. Das zeigte sich in vielen spannenden Akzenten. In der Dramatik des letzen Aktes blieben an Niemann und das Orchester denn auch kaum noch Wünsche übrig.

Wolfgang Denker, 30.10.2016

Fotos von Heiko Sandelmann