Bremerhaven: „Der goldene Drache“

Premiere am 4.6.2016

Totenreise mit roten Lampions

Der Komponist Peter Eötvös ist im Bremerhavener Stadttheater kein Unbekannter – und umgekehrt auch nicht: Eötvös war vor drei Jahren anlässlich der Bremerhavener Neuinszenierung seiner Oper „Love and other demons“ persönlich zur Premiere gekommen. Nun steht „Der goldene Drache“ auf dem Programm. Die neunzigminütige Oper ist erst vor zwei Jahren in Frankfurt uraufgeführt worden. Bremerhaven ist das zweite Theater, das diese Oper spielt. Und Intendant Ulrich Mokrusch hat gleich selbst die Regie übernommen.

Die literarische Vorlage ist das gleichnamige Theaterstück von Roland Schimmelpfennig, der auch das Libretto der Oper eingerichtet hat. Eines der Themen ist die Ausbeutung von illegalen Einwanderern. Hier ist es ein chinesischer Junge, der in der Küche des Restaurants „Der goldene Drache“ arbeitet. Weil er sich illegal aufhält, kann er seine Zahnschmerzen nicht von einem Arzt behandeln lassen. Also zieht man ihm den Zahn brutal mit einer Rohrzange. Dumm, dass er daran verblutet. Seine Leiche wird im Fluss entsorgt, in der fast poetischen Hoffnung, dass er so die Reise in seine Heimat antritt. Der Zahn allerdings ist in einer Suppenschale gelandet, wo ihn eine Stewardess findet. Daneben gibt es andere, eigentlich schreckliche Handlungsstränge: Ein leichtlebiges Mädchen rutscht in Armut und Prostitution und wird schließlich ermordet. Das ist hier in eine Fabel von Ameise und Grille verpackt: Die Ameise arbeitet und sammelt den ganzen Sommer, während die Grille nur singt. Zum Winter steht die Grille mit leeren Händen (und leerem Bauch) da.

Andere Szenen zeigen einen Großvater, der sich an seiner Enkelin vergreift oder eine schwangere Frau, die geschlagen wird. Die Szenen sind nicht in sich abgeschlossen, sondern die Motive werden wie Puzzleteile immer wieder aufgegriffen und fortgeführt. Aber all das wird nicht plakativ und drastisch dargestellt, sondern entweder in skurriler Überzeichnung (wie beim Abklopfen der Zähne mit der Rohrzange) oder in dezenter, fast märchenhafter Lesart. Die insgesamt 21 Miniaturszenen werden durch die eher unaufgeregt daherkommende Musik von Peter Eötvös zu einem Ganzen geklammert. Diese Musik wartet mit einem fein verästelten Tongeflecht auf, gleichzeitig rhythmisch und filigran, selten wirklich auftrumpfend. Es ist ein eher kommentierender Klangteppich, mit flirrenden Streichern und einigen der chinesischen Musik nachempfundenen Elementen, über den sich die Gesangsstimmen mühelos legen können. Die Sänger haben vor allem eine Art Sprechgesang zu bewältigen, der immer wieder mit ariosen Phrasen durchsetzt ist. Um dem schnellen Wechsel der Szenen folgen zu können, ist Textdeutlichkeit hier eine der wichtigsten Anforderungen. Die jeweils zwei Sopranistinnen und Tenöre sowie der Bariton, die in über 20 Rollen schlüpfen müssen, haben das vorbildlich umgesetzt.

Dem Regisseur Ulrich Mokrusch ist eine optimale Inszenierung gelungen. Er hat alles aus dem Stück herausgeholt, was es hergibt. Orchester und Publikum haben ihren Platz auf der Bühne und sitzen rund um die zentrale Spielfläche. Die Szenenwechsel gelingen nahtlos und temporeich, die Rollenwechsel werden mit minimalen Änderungen in den Kostümen verdeutlicht. Bühne und Kostüme sind von Timo Dentler und Okarina Peter. Mokrusch hat in seine Inszenierung viele humorvolle Elemente einfließen lassen, etwa die Szenen zwischen den beiden Stewardessen und der Restaurant-Bedienung, ohne dadurch den ernsthaften Hintergrund zu opfern. Eine wirklich berührende Lösung ist ihm beim Tod des chinesischen Jungen gelungen. Zunächst stehen alle stumm und wie eine Mahnwache am Rand der ganz langsam rotierenden Drehbühne. Dann senkt sich ein Meer roter Lampions vom Bühnenhimmel, während der Junge seinen ergreifenden Abschiedsmonolog singt. Dies ist übrigens die einzige, etwas längere musikalische Szene mit ausgesprochenem Operncharakter. Schließlich entschwinden die Lampions und mit ihnen der Junge wieder himmelwärts. Ein eindrucksvolles Bild voller Zauber und Poesie.

Regine Sturm (Sopran I) verkörperte den armen chinesischen Jungen mit herzzerreißender Intensität und gesanglicher Souveränität. Tobias Haaks (Tenor II), der ein paar kräftig ausgestellte Glanztöne beisteuern darf, ist u. a. als Koch, Stewardess und prügelnder Mann zu erleben, Filippo Bettoschi (Bariton) mit köstlicher Mimik als Stewardess und Bedienung, Thomas Burger (Tenor I) als leidende Grille und Großvater, Patrizia Häusermann (Sopran II) als kaltschnäuzige Ameise und Enkelin. Die Wandlungsfähigkeit des Ensembles innerhalb von Sekunden ist bemerkenswert. Kapellmeister Ido Arad und die Bremerhavener Philharmoniker erfüllen ihre Aufgabe, die wechselnden musikalischen Stimmungen punktgenau umzusetzen, mit Bravour. Der anwesende Komponist bedankte sich, offensichtlich sehr gerührt, bei allen Beteiligten.

Wolfgang Denker, 5.6.2016

Fotos von Heiko Sandelmann