Premiere: 10. Oktober 2020
Es ist der Regisseurin und dem musikalischen Leiter zu verdanken, dass trotz der Beschränkungen durch die vom Staat vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrungen ein relativ langes Werk wie Verdis Otello auf der Berner Bühne Premiere feiern konnte. Leider musste der Operndirektor Xavier Zuber an der Premiere eine weitere Einschränkung bekannt geben: Berns Otello, der aus Mexiko stammende Sänger Rafael Rojas war indisponiert und konnte nur spielen, nicht aber singen. Er wurde sängerisch gedoubelt vom australischen Tenor Aldo di Toro.
Im Ganzen gesehen kann die Produktion der Regisseurin Anja Nicklich als handwerklich solide Arbeit bezeichnet werden. Frau Nicklich inszeniert Verdis Otello in konventioneller Art ohne neue Aspekte des Werkes aufzudecken. Die Spielleiterin auf die Frage nach dem Aussenseitertum Otellos:“Es ist das Prinzip des Spiegels. Wie reagieren die anderen Figuren auf Ihn“. In der Regie in Bern sind auf dieses Aussenseitertum keine Reaktionen zu spüren. Otello ist für alle ein Held, einer der Ihren. Die Ausgrenzung im dritten Akt ist nicht auf den “Mohr von Venedig“ zurückzuführen, sondern auf die Misshandlung von Desdemona durch Otello. Otello ist in Bern nicht als Schwarzer dargestellt, sondern als Venezianer, als General im Dienst der Dogen.
Viel besser charakterisiert und unterstrichen durch seine Körpersprache, durch seine Mimik und Gestik, ist Jago, gespielt und gesungen durch den aus Hawaii stammenden Bariton Jordan Shanahan. Dies gilt auch für die Darstellerin der Desdemona, der Sopranistin Evgenia Grekova, Ensemblemitglied des Konzerttheaters.
Auch in Bern wird, wie in den meisten Produktionen von Otello, nicht herausgearbeitet, dass der Antagonist von Jago nicht Otello, sondern Desdemona ist. Sie sollte nicht nur als Mensch dargestellt werden, sondern auch als Verkörperung des Guten, der Liebe und der Duldsamkeit. Jago dagegen ist das Böse, Zerstörerische, immer mehr Wollende. Beide stehen also auch für die übergeordneten Prinzipien auf der Bühne. Otello dagegen steht als Nur-Mensch in der Mitte zwischen Gut und Bös. Er wird von Jago instrumentalisiert, zur Eifersucht aufgestachelt und ermordet schlussendlich das Gute, also Desdemona und sich selbst, den Menschen. Was gewinnt Jago dadurch: Nichts als Mensch, alles dagegen als Prinzip des Bösen. Böse sein ist Jagos Lebenszweck, dies übrigens im Gegensatz zu anderen Figuren von Shakespeare, welch zwar böse sind, dies aber nur unter Zwang werden. Am Schluss der Oper wird Jagos Intrige zwar aufgedeckt, bleibt aber für ihn selbst ohne Folgen.
Jago, Shakespeares Bösewicht, ist das Böse selber. Dies im Gegensatz zu vielen Charakteren bei Shakespeare, welche durch äussere Umstände Bösewicht wurden. Zwei Zitate dazu können dies aufzeigen: Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter kann kürzen diese fein beredten Tage bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden und feind den eitlen Freuden dieser Tage. (Richard III, erster Akt, Szene 1, Monolog Gloster)
Ich bin ein Bösewicht, weil ich ein Mensch bin und fühle den Schlamm meines Ursprungs in mir! Ja, das ist mein Glaube! Ich glaube mit festem Herzen, so wie die Witwe im Tempel, dass ich das Böse, das ich denke, das von mir ausgeht, als mein Schicksal erfülle! (Aus Otello Jago, Libretto von Arrigo Boito, 2. Akt, Szene 1)
Der Bösewicht Jago ist bei Shakespeare wesentlich subtiler charakterisiert als in Boitos Libretto.
Der ukrainische Tenor Nazariy Sadivskyy gibt den Cassio sängerisch hervorragend. Seine schau-spielerische Leistung bleibt jedoch weit hinter seiner hervorragenden musikalischen Interpretation der Rolle zurück. In weiteren Rollen zu sehen und hören: Andries Cloete als Roderigo, Young Kwon als Lodovico, Montano wird interpretiert von Philip Mayer und eine sehr gute Emilia gibt die Mezzosopranistin Sarah Mehnert.
Als hervorragend ist auch die Arbeit des Chores zu erwähnen, an Arbeit mangelt es in Verdis Otello für den Chor nicht. Aufgrund der behördlichen Vorgaben musste der Chor mit Gesichtsmasken singen. Mein Eindruck war, dass dies den Gesang der Sängerinnen und Sänger nicht wesentlich beeinflusste. Die Einstudierung der grossen Chorpartien wurde von Zsolt Czetner besorgt. Der Entwurf der Bühne stammt von Janina Thiel, die Kostüme zeichnete Gesine Völlm.
Das Berner Symphonieorchester musizierte unter der Leitung von Matthew Toogood. Für den Dirigenten war dies die erste Begegnung mit dem Spätwerk Verdis. Ich empfand sein Dirigat eher zu dramatisch, zu stark auf die musikalischen Effekte zugeschnitten. Seine Zusammenarbeit mit der Bühne, das Eingehen auf den Chor und die Solisten auf der Bühne ist vorbildlich und kann einigen anderen Orchesterleitern als Vorbild dienen.
Das zahlreich erschienene Premierenpublikum, darunter erfreulich viele junge Besucherinnen und Besucher, belohnten den Abend mir rauschendem Applaus. Das Haus war trotz der Sicherheitsvorschriften praktisch ausverkauft.
Peter Heuberger, Basel
Bilder © Annette Boutellier