Mailand: „Salome“

Vorstellung am 19.2.21

Die Neuproduktion der Oper von Richard Strauss war im Vorjahr für die Premiere bereit, als die Scala wegen der Pandemie schließen musste. Für die Titelrolle und als Jochanaan waren damals Malin Byström und Michael Volle vorgesehen, die in diesem Jahr nicht zur Verfügung standen.

Wie die meisten italienischen Opernhäuser lud auch die Scala einige ausgewählte Journalisten ein, an der für die TV-Ausstrahlung am nächsten Tag vorgesehenen Aufzeichnung teilzunehmen. Wir wurden unter Berücksichtigung der Abstandsregeln in der 1. Galerie untergebracht (entspricht in Wien dem Balkon), nachdem uns FFP2-Masken ausgehändigt worden waren (Tests wurden nicht verlangt). Aus dem Parkett war mit Ausnahme der letzten sechs Reihen sämtliches Bestuhlung entfernt worden: Hier nahm das Orchester in gebührendem Abstand der Musiker untereinander Platz, mit Ausnahme der Bläser alle mit Masken. Soweit die äußeren Voraussetzungen, doch nun zur Aufführung.

Damiano Michieletto, Italiens Beitrag zum Regietheater, versetzt die Geschichte aus Judäa in ein beliebiges Heute, in dem sich das übliche Personal aus sektschlürfenden Smokingträgern zusammenfindet. Um die familiären Verhältnisse zu klären, sehen wir ein Diagramm, welches erklärt, dass Salome die Tochter von Herodes Philippus und der Herodias ist. Er wurde von letzterer und seinem Halbbruder Herodes Antipas ermordet, wodurch Salome nach seiner Heirat mit Herodias zu dessen Stieftochter wurde. Diese war gemäß Michieletto bereits als Kind das Objekt der sexuellen Begierde des Stiefvaters. Eine sich im Bühnenhintergrund öffnende Tür zeigt das Kind mit seiner Puppe, wie sich der Mann dem Bett nähert, nicht ohne zuvor eine Metallmaske angelegt zu haben.

Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich Michielettos Regie: Auf einer grell erleuchteten weißen Bühne mit schwarzen, von Neonleisten gerahmten Seitenteilen (Paolo Fantin, der immer zu Michielettos Team gehört), spielt sich vieles nach Schema F ab, anderes wirkt sonderbar. So muss Narraboth („Er war sehr schön“) einen grauen Anzug mit Gilet und eine Brille tragen, die ihn zum grauen Bürokraten stempeln. Der Page wird zu einer Gouvernante der Salome, die fast die ganze Dauer der Oper besorgt der Handlung folgt.

Bevor Jochanaan aus einem sich in der Bühnenmitte öffnenden Kreis auftaucht, erscheinen fünf Todesengel mit schwarzen Flügeln und verbundenen Augen (Kostüme: wie immer Carla Teti, Beleuchtung: Alessandro Carletti). Jochanaan hat langes Haar wie wir es aus der Jesus-Ikonographie kennen und trägt ein Lamm im Arm. Bei „Des Menschen Sohn“ gräbt er auf der mittlerweile mit einer Art Kohlenstaub bedeckten Scheibe eine Puppe aus. Ein Todesengel schüttet Blut über das Kindlein und legt es auf der Scheibe nieder. Jochanaan löst eine schwarze Feder von einem der Todesengel, und Narraboth erschießt sich. Während ein großes Schild nochmals an Herodes Philippus erinnert, versinkt Jochanaan nach „Sei verflucht“, und die Todesengel gehen ab. Nun öffnet sich wieder die Tür im Hintergrund, und wir sehen eine großbürgerliche Tafel, an der es keineswegs orgiastisch zugeht. Die Juden verlassen ihre Plätze, um ihre Dispute durchzuführen, während derer es schwarze Federn vom Himmel regnet. Eine lila Kugel sinkt herab und wird von Salome wiederholt angestoßen, was zur Flucht der Juden führt. Der Tanz wird als Alptraum gezeigt, indem das zuvor wieder aufgetretene kleine Mädchen Herodes eine Metallmaske gibt und mit ihm abgeht, während die erwachsene Salome von sechs hemdsärmeligen Männern mit derartigen Masken bedrängt wird (was ich nicht unbedingt als Choreographie bezeichnen würde, stammt von Thomas Wilhelm). Nach Herodes‘ Rückkehr und dem perversen Wunsch der Salome (wobei wieder das Kind im Bett samt Todesengeln zu sehen ist) symbolisieren rote Stricke Blut, während sie wie befreit im Kreis geht.

Nun taucht ein Auszug aus dem berühmten Gemälde von Gustave Moreau auf, wo der Prophet in einem an eine Monstranz erinnernden Strahlenkranz zu sehen ist. Von dort rinnt Blut in eine Schale, das von einem der Todesengel in einen Kelch geschüttet und Salome dargeboten wird. Sie küsst also nicht das Haupt des Jochanaan, sondern trinkt dessen Blut. Schon bei „Man töte dieses Weib“ sinkt der Vorhang: Tod und Verklärung Salomes…

Wir haben also eine nicht uninteressante symbolbefrachtete Inzestgeschichte gesehen, der die wichtigsten Charakteristika des Themas fehlen – die schwüle Atmosphäre und die damit einhergehende dampfende Erotik.

Angesichts der geschilderten räumlichen Verhältnisse ist es überaus schwierig, ein ausgewogenes Urteil über die Orchesterleistung abzugeben. Die Proben hatten unter der Leitung von Zubin Mehta stattgefunden, der angesichts eines Schwächeanfalls ein paar Tage vor der Aufführung von Musikdirektor Riccardo Chailly vertreten wurde. Mir schien es sich um eine orchestral aufregende Interpretation zu handeln, in dem die Blechbläser besonders brillierten, ohne aber die Streicher und das Holz zuzudecken. Die Titelrolle sang die 34-jährige Russin Yelena Stikhina, international mit ihrer Médée 2019 bei den Salzburger Festspielen bekannt geworden.

Anlässlich ihres Deutsch, von dem man mit Ausnahme von „Ich will den Kopf des Jochanaan“ buchstäblich kein Wort verstand, nimmt es Wunder, dass die Sängerin auch mit Sieglinde und Brünnhilde unterwegs ist. Sie bewegte sich geschickt bis rasant auf der Bühne, ohne mir starken persönlichen Eindruck zu hinterlassen (was vielleicht auch Schuld der Regie ist). Stimmlich wurde sie im Laufe der Aufführung mit guten Höhen überzeugender, aber war vom Glanz eines echten Strausssoprans doch entfernt. Der Unterschied im Grad der Persönlichkeit konnte an der – auch stimmlich ausgezeichneten – Herodias von Linda Watson gemessen werden, die nur aufzutreten brauchte, um den Bühnenraum zu erfüllen. Gerhard Siegel (Herodes) war vokal und szenisch sehr präsent, und man bedauerte, dass der „Tanz der sieben Schleier“ ohne seine Präsenz auskommen musste. Wolfgang Koch gab einen eher rauhstimmigen, von Salomes Avancen unangefochtenen Jochanaan. Dem Narraboth lieh Attilio Glaser einen frischen, schön timbrierten Tenor und überzeugte wesentlich mehr als 2019 in der „Ägyptischen Helena“ (Da-ud). Sehr ausgewogen klang das Quintett der Juden, bestehend aus Matthias Schmidlechner, Matthias Stier, Patrick Vogel, Thomas Ebenstein und Andrew Harris. Als stimmschön erwies sich der Erste Nazarener Thomas Tatzl, begleitet von Manuel Walser als Zweiter Nazarener. Erster und Zweiter Soldat waren Sorin Coliban und Sejon Chang, den Kappadokier gab Paul Grant von der Accademia della Scala. Als Sklave ergänzte Chuan Wang.

Es war schön, wieder einmal bei einer Aufführung live dabei gewesen zu sein, aber die Sehnsucht nach den akustischen Gegebenheiten, die man kennt, die bleibt…

Eva Pleus 25.2.21

Bilder: Brescia&Amisano / Teatro alla Scala