Augsburg: „Orfeo Ed Euridice“

Premiere am 10. Oktober 2020

Virtual Reality in der Oper – ein Experiment

Wenn man über eine lila Leuchtspur in den Saal der Ausweichspielstätte des Staatstheaters Augsburg im martini-Park kommt und auf die schon offene, mit einer gelben Leiste umrandete Bühne sieht, erinnert man sich sofort an die „Trovatore“-Inszenierung von Alvis Hermanis bei den Salzburger Festspielen 2014/15, wo man – wie nun in Augsburg – in einen farbenfrohen Museumsraum von Jan Steigert voller alter Meister sieht (Wolfgang Buchner, Leiter des Malsaals, war für die beeindruckend detailgetreue Umsetzung der Caravaggios verantwortlich) und das neugierig einströmende Publikum bei seinen teilweise skurril anmutenden Bildbetrachtungen bewundern kann. Während Anna Netrebko als Leonora in Salzburg Museumsaufseherin war, liegt die Hauptdarstellerin in Glucks „Orfeo ed Euridice“ in Augsburg von Beginn an regungslos hinten in einem abgesperrten Knautschkissen – erst später stellt sich heraus, dass es Euridice ist. Bei Gluck ist sie ja tatsächlich tot, sonst wäre die ganze Oper sinnlos.

In der Augsburger Inszenierung von André Bücker mit dramaturgischer Unterstützung von Sophie Walz und Sarah Schnoor sowie in den Virtual Reality (VR – Abkürzung muss in diesem Gewerbe sein!) -Welten von Senior Art Director Christian Schläffer und dem Verantwortlichen für Regie&Dramaturgie eben dieser VR-Welten, Christian Felder, ist die Schöne allerdings nur virtuell tot. Euridice lebt ja noch in ihrer virtuellen Welt, ihrer Virtual Reality, weiter, mit der klobigen 3D-Brille auf der Nase. Davon kann der im Diesseits agierende Orfeo natürlich nichts ahnen. Er ist eher darum bemüht, sich vom kapriziös herumstolzierenden Amor nicht den Ausstellungskatalog klauen zu lassen, profane Gegenwärtigkeit also… Das heißt, sie, denn das Regieteam lässt Orfeo mit der russischen Mezzosopranistin Natalya Boeva auch optisch als Frau auftreten, mit langen Haaren, Damenschuhen und einem leichten Hosenanzug. Übrigens genau in den Farben Gelb-Blau-Grau des Logos der Heimspiel GmbH, die für das Staatstheater Augsburg das VR-Repertoire des #digitaltheaters technisch umsetzt und natürlich auch bei „Orfeo“ maßgeblich mitwirkt (Produkt Placement?!). Für die auch sonst oft eigenwilligen Kostüme zeichnet Lili Wanner und für das Licht Andreas Rehfeld verantwortlich.

Warum nun Orfeo als Frau?! Die ursprünglich für einen Countertenor (Haut-Contre) geschriebene Pariser Fassung wird heutzutage in der Regel mit einem Alt oder Mezzo besetzt, und zwar in einer Hosenrolle – ein Rollenkonzept, welches sich nach einer Bearbeitung von Hector Berlioz für das Pariser Théâtre-Lyrique (1859) eingebürgert hat. Sollte mit zwei Damen vielleicht ein anderes Konzept der Liebe der beiden angedeutet werden?! Wenn man ins Programmheft schaut, wimmelt es nur so von „Gendersternchen“, die ein flüssiges Lesen erschweren. Da ist also für alles und alle Platz; zum ersten Mal sah ich nun auch ein Sternchen zwischen die*der Betrachter*in… Die mangelnde Akzentuierung eines männlichen Orfeo, aus welchem Grund auch immer, nahm jedenfalls einige Spannung aus dem dramatischen Ablauf des Geschehens auf der „diesseitigen“ Bühne. Für mich war es nicht mehr als ein feministischer Regie-Gag.

Aber hier ging es ja in erster Linie um ein Jenseits, eine andere Welt und Realität, eben die Virtual Reality, die, wenn man einem gleich zu Beginn des Programmheftes von der Dramaturgin Walz unterbreiteten Zitat des „Second Life“-Gründers Philip Rosedal folgen mag, bald jene sein wird, in der wir uns hauptsächlich bewegen: „In einigen Jahren werden wir die reale Welt als Museum betrachten. Wir werden nur zurückkehren, um zu essen und zu lieben.“ Nun gut, da kann man bei aller Liebe zum Cyberspace und zum Internet mit seinen vielfältigen Ramifikationen nur sagen „Wehret den Anfängen!“ Denn das kann es ja wohl nicht sein, das entspräche nicht der Natur des Menschen und seiner Evolution als Homo sapiens, also eines wissenden Lebewesens. Ein Leben ohne physischen Sport, ohne Fußball, ohne Theater und Oper…?! In Augsburg musste aber die Virtual Reality derzeit noch verordnet werden: Schon vor Beginn wird das Publikum detailliert auf die Verwendung der klobigen 3D-Brillen, die wie Schwimmwesten in der economy class von Flugzeugen unter dem Sitz ruhen, eingeschworen und instruiert. Probeweise tanzen gleich mal drei tief tiefdekolletierte fesche Damen von der linken und rechten Seite auf 3D an. Man vermisst einen Herrn zur gender equality, etwas inkonsequent – wenn schon, denn schon…

Also, es ging hier in Augsburg um eine neue Sicht auf die und in der Oper, um die Nutzbarmachung der Virtual Reality, wobei sich Kunst und Technik gegenseitig inspirieren, wie Walz schreibt, ein „immersives Gesamtkunstwerk“. Man erlebe mit der VR die Möglichkeit zu einem Perspektivwechsel durch die Versetzung in einen künstlichen Körper. In einem Ersatzkörper – einem Avatar – erlebe man eine „alternative Wirklichkeit“. Sofort kommt mir der Spruch von Kellyanne Conway über die „alternativen Fakten“ anlässlich der Inauguration von Präsident Trump in den Sinn… Das Thema ist allerdings nicht ganz so neu wie es die „alternativen Fakten“ in Washington D.C. im Januar 2017 waren. Denn schon 2004 versuchte sich das Brucknerhaus Linz mit einer 3D-Animation an einem „Rheingold“ von Richard Wagner – die Brillen mussten allerdings durchgehend aufgesetzt bleiben. Der mit Spannung erwartete Versuch kam aber nicht sonderlich an. Im Jahr darauf ging der ursprünglich ganz in 3D geplante „Ring“ konzertant weiter und so auch mit der „Götterdämmerung“ zu Ende.

Das Konzept ist aber dennoch einer tieferen Betrachtung wert, zumal in Abgrenzung zum ohnehin immer mehr grassierenden Video und Film auf der Opernbühne und der Kunstform Film an sich. Um den ihrer Meinung nach zwischen Virtual Reality und dem Film bestehenden Unterschied zu verdeutlichen, zitiert Walz Randal Walser mit „Elements of a Cyberspace Playhouse“. Dieser meint, dass man den Film benutzt, um dem Publikum eine Wirklichkeit zu zeigen, während der Cyberspace dem Anwender einen virtuellen Körper und eine Rolle zuweist und versucht, die Erfahrung selbst zu vermitteln. Dramatiker und Filmregisseure versuchten stattdessen, die Idee einer Erfahrung plastisch zu machen. „Das Publikum stellt sich also nicht nur vor, es erlebe eine interessante Wirklichkeit, sondern es kann sie direkt erfahren.“ Allein, ich glaube nicht, dass das so klar voneinander zu trennen ist und der Virtual Reality eine solche Andersartigkeit gegenüber dem Film zugeschrieben werden kann, sie damit also so sensationell neu oder gar ganz anders ist. Ich denke nur an den US-amerikanischen Science-Fiction-Film „Independence Day“ von Roland Emmerich 1996. Die Welt, die sich vor dem ins Herz des Mutterschiffes der Aliens geschossenen Vietnam-Veteranen Russell Casse auftut, hat einiges gemeinsam mit jener, die sich vor den „Orfeo“-Besuchern in Augsburg auftut, wenn ihnen auf eins, zwei, drei von der Bühne aus das Signal zum Aufsetzen der 3D-Brillen gegeben worden ist. Man fliegt hinunter in eine düstere Stadt mit Lichtreklame, am Boden ringelt sich die dunkle Schlange, die wohl Euridice totgebissen haben könnte, inmitten von unzähligen schwarzgefärbten plastifizierten und geschlechtslosen menschenartigen Wesen in ständiger Bewegung. Über ihnen kreisen angsteinflößend drei riesige chinesische Drachen – Bückers und Schläffers Welt der berühmten Furien, die Orfeo bekanntlich mit seinem Gesang befrieden muss.

Das gelingt ihm ja auch, und so tauchen wir wenig später, nachdem nochmal diesseitig Luft geholt werden konnte, zum zweiten Virtual Reality Einsatz in das Elysium ein und erleben eine Welt, in der wirklich fast nichts an vermeintlich Angenehmem vergessen wurde: Natürlich geht es unter einem kitschig rosa leuchtenden Himmel und über saftig grüne Wiesen in einen altgriechischen Wellness-Park mit klassischer Architektur und Ornamentik, über eine herrschaftliche Treppe in ein luftig elegantes Badehaus mit einer Decke, die assoziativ auch einen Sprung ins Pantheon nach Rom erlaubt. Für ständige Frischwasserversorgung der Badebecken sorgen unterdessen munter vor sich hin sprudelnde Springbrunnen aus Vagina-Quellen. Wenn man aber durch das Badehaus mit seinen überall herumliegenden und platonisch liebenden Neutren durch ist, wird’s echt tierisch. Unter allerlei Paradiesgetier überraschen besonders eine Gruppe von Galapagos-Schildkröten und eine Riesenhornisse, fraglos friedlich. Wenn dann später Orfeo im Diesseits doch der Geliebten in die Augen gesehen und sie sich hinter ihrer 3D-Brille wieder ins Knautschkissen im Museum verzogen hat, kommt 3D-Gang No. 3, in dessen Verlauf all diese schönen Dinge kompromisslos in die Mülltonne wandern. Zwei ferngesteuerte Arme machen’s möglich. In der Folge wird den beiden schließlich ein Null-Acht-Fünfzehn-Wohnzimmer eingerichtet, in dem sie künftig ihrer nun neu entstandenen und besungenen Liebe ein geregeltes und sich von ihren Zeitgenossen immerhin noch positiv absetzendes Miteinander fristen können. Denn diese, und dazu gehört ein Ersatz-Jesus, zwei Nonnen, eine Doppelgängerin von Marina Abramovic, eine asiatische Touristin, ein etwas undisziplinierter US-Amerikaner aus dem Wilden Westen, einige übermotivierte Sicherheitsbeamte und einige andere, die alle auch den Chor stellen, haben sich des Museums zur Absteige bemächtigt wie bei einer Hausbesetzung, mit Wäscheleinen, Schlafsäcken und sogar einer EU-Fahne! Die Erde hat uns alle wieder.

Natalya Boeva war die Erstbesetzung des Orfeo, oder besser, der Orfea. Sie brachte viel Emphase in die Rolle ein, bei gutem Mienenspiel eines die im allgemeinen überzeugende Personenregie stringent umsetzenden Protagonisten. Ich erlebte sie schon bei ihrem Gewinn des 67. Internationalen Musikwettbewerbs der ARD München 2018, wo sie mir durch ihre hohe Musikalität und ihren charaktervollen Mezzo bei bester Diktion auffiel. Auch Boevas erste Arie gelang sehr schön und wurde hörbar getragen vom großen Schmerz über Euridices Verlust. Bei der berühmten Arie im 2. Akt „Ach, ich habe sie verloren“ fehlte es aber etwas an gesanglicher Dichte und Intensität. Ein Glanzpunkt wurde sie nicht und blieb auch ohne Applaus. Hervorragend dagegen der leuchtende und bestens artikulierende Sopran von Jiyhyun Cecilia Lee als Euridice, von der man gern etwas mehr gehört hätte. Sie konnte alle Facetten der stimmlichen Anforderungen der Rolle ausloten und dabei auch noch durch ihr emotionales Spiel überzeugen. Olena Sloia beeindruckte als leicht sexy dargestellter Amor mehr durch ihre zum Teil kunstvollen Bewegungen bis hin zur Pantomime. Mit einem leichten Sopran fügte sie sich aber gut in die Dreiergruppe ein.

Schade nur, dass sie alle verstärkt wurden, angesichts der Raumverhältnisse der Behelfsbühne nicht nachvollziehbar. Damit wirkten die Stimmen des Öfteren zu laut, wie auch das Staatsorchester Augsburg, welches nicht im selben Raum saß und also zugespielt wurde. Wolfgang Katschner hatte die musikalische Leitung, und manches hätte vielleicht inniger und gefühlvoller musiziert werden können, wenn es den direkten Blickkontakt mit den Sängern gegeben hätte. Bei den 3D-Szenen war es aber ohnehin egal. Man merkte Katschners Dirigat an, dass er sich sehr für eine lebendige Alte Musik engagiert. Zusammen mit Hans-Werner Apel gründete er 1984 die lautten compagney BERLIN. Er ist ein Kenner dieses Fachs.

So bleibt die große Frage, ob das Konzept der Virtual Reality mit den offenbar unabdingbaren klobigen 3D-Brillen so, wie es hier – streckenweise durchaus interessant und auch spannend – vorgestellt wurde, ein Weg für das weitere Gedeihen der Oper als Kunstform ist. Ich bin dieser Meinung nicht. Der „Orfeo“ in Augsburg hat gezeigt, dass die eigentliche Oper, so wie sie komponiert und mit Regieanweisungen versehen wurde, und die Szenen der VR so stark auseinanderfallen, dass die dramaturgische Einheit und die dramatische Stringenz zerfallen. Gluck war ja bekanntlich ein großer Reformer der Oper. Aber sollte man ihm nicht vertrauen als kompetentem Komponisten, sein Werk aus sich selbst heraus leben und ganz authentisch beeindrucken zu lassen, sicher mit guter darstellerischer Phantasie erfahrener Regisseure. Es hat doch alle Ingredienzien eines Universal-Werkes, sodass es einer zweiten Erlebnisebene nicht bedarf, die außerdem zu Unterbrechungen im Erleben der Oper selbst führt. Durch die Frage: Wann muss ich die Brille wieder aufsetzen? geht viel an Konzentration verloren. Ich könnte mir überhaupt nicht und nie vorstellen, dass vor dem Liebesduett von Tristan und Isolde im 2. Aufzug des gleichnamigen Werkes von R. Wagner jemand auf der Bühne oder ein Licht-Signal ein Zeichen gibt, nun die 3D-Brille aufzusetzen. Das wäre dann das vorzeitige Ende von „Tristan und Isolde“…

(Weitere Aufführungen 16.5. bis 14.6.2021 im martini-Park Augsburg).

Fotos: Jan-Pieter Fuhr und Christian Schläffer (Bild 3)

Klaus Billand/19.10.2020

www.klaus-billand.com