Premiere: 11. Juni 2016
Besuchte Vorstellung: 14 .Juni 2016
Dass man von einem Sänger, dessen Namen man vorher noch nie gehört hat, restlos begeistert, von seiner Gestaltung der Hauptrolle mitgerissen wird, erlebt man als regelmäßiger Opernbesucher nur noch selten: Dem österreichischen Tenor Alexander Kaimbacher gelingt dieses Kunststück jetzt am Theater Bielefeld mit seiner Interpretation des Gustav von Aschenbach in Benjamin Brittens „Tod in Venedig“.
Der in Wien lebende Sänger ist als Aschenbach vollkommen gegen das Klischee der Rolle besetzt: Er ist kein alternder Mann, sondern ein Sänger in den besten Jahren, der körperlich bestens in Form ist, was er auch zeigen darf. Sein Tenor klingt leicht süßlich und farbenreich, dass man sich ihn sehr gut als Tamino oder Ottavio vorstellen kann. Zusätzlich verfügt er aber auch über große Kraftreserven, um auch die Verzweiflung und Zerrissenheit des Aschenbachs zu gestalten.
Alexander Kaimbacher liefert sich auch darstellerisch der Rolle vollständig aus, und oft glaubt man hier keinen Sänger, sondern einen singenden Schauspieler vor sich zu haben. Dabei trägt er das Regiekonzept von Nadja Loschky voll mit, überstrahlt dieses aber durch seine sängerische und schauspielerische Kraft.
Die Inszenierung hätte ein großer Wurf und vielleicht sogar ein Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte dieser Oper werden können, wenn Regisseurin Nadja Loschky es geschafft hätte, ihr Einfälle klarer zu strukturieren und in schlüssige Bilder zu übertragen. Für die Regisseurin ist „Tod in Venedig“ keine letale Reise eines alternden Homosexuellen in die Lagunenstadt, sondern ein Blick in die Psyche Aschenbachs.
Der Fremde und Tadzio sind hier optische Doppelgänger Aschenbachs und Teile seiner Persönlichkeit: Der Reisende verkörpert Aschenbachs Triebe, währen der Tadzio ein jüngeres Ego der Figur ist. Die Liebe Aschenbachs zu Tadzio ist hier nicht homoerotisch, sondern eine wehmütige Erinnerung an die eigene vergangene Jugend und deren Möglichkeiten.
Besonders deutlich wird diese in den Liebesszenen Tadzios mit dem Erdbeermädchen, das hier zu einer Jugendliebe Aschenbachs wird. Nicht schlüssig ist dann aber, dass Aschenbach und der Reisende in einigen Szenen in das Kleid des Erdbeermädchens schlüpfen.
Eher kontraproduktiv für das Inszenierungskonzept wirkt sich die vierfache Hotellobby auf der Drehbühne von Ulrich Leitner aus. Warum spielt diese Produktion in einem Hotel ohne jedes Venedig-Ambiente, wenn Aschenbach sowieso nur in seine Psyche eintaucht? Schlüssiger wäre es gewesen, wenn das Stück in Aschenbachs Arbeitszimmer verlegt worden wäre, in dem dann Gemälde oder Spiegelbilder hätten lebendig werden können.
Auch in den weiteren Partien ist diese Produktion bestens besetzt: Evgueniy Alexiev singt mit starkem Bariton den Reisenden, und Gieorgij Puchalski spielt eine geheimnisvollen Tadzio. Der Apollo, sonst Gegenspieler des Reisenden ist in dieser Inszenierung ein katholischer Priester, der nur Randfigur bleibt, von Clint van der Linde aber mit schönem Countertenor gesungen wird.
Sehr farbenprächtig spielen die Bielefelder Philharmoniker unter Pawel Poplawski die abwechslungsreiche Partitur aus. In den Venedig-Musiken gerät das Orchester richtig ins Schwelgen, während die Aschenbach-Monologe von bohrender Intensität sind. Ein Extra-Lob verdient das reich besetzte Schlagwerk.
Eine gute Idee der Regisseurin ist es, dass Aschenbach am Ende nicht stirbt, sondern er mit seinem Trieb-Ich (der Reisende) und seinem jungen Ich (Tadzio) am offenen Sarg eines weiteren Aschenbach-Doubles stehen. Die Reise durch sein Triebleben hat nur einen Teil seiner Persönlichkeit sterben lassen.
Rudolf Hermes 17-6-16
Bilder (c) Theater Bielefeld