Paris: „Sacre du Printemps“

Vier Mal (!)

zum Hundertjährigen Jubiläum des Théâtre des Champs-Elysées

Vaslav Nijinsky + Sasha Waltz + Pina Bausch + Sagar Forniés

Um die Feierlichkeiten für den hundertsten Geburtstag des Théâtre des Champs-Elysées vorzubereiten, hat die Chefdramaturgin des Hauses, Nathalie Sergent, wörtlich mehrere Jahre in alten Kisten gewühlt. Denn während die Bücher über die Opéra de Paris ganze Schränke füllen, hat es noch nie ein Buch über das jüngste der vier Pariser Opernhäuser gegeben (wenn man die Opéra Bastille als zweite Spielstätte der alten Oper nicht mitzählt). Die jüngste Oper der Stadt hat auch die meist bewegte Geschichte, denn sie ging öfters Pleite, bis sie 1922 durch einen amerikanischen Millionär als Geschenk für die Opernsängerin Ganna Walska gekauft wurde. Die bildschöne und energische Frau leitete mit ihm, ihrem vierten Ehemann (und mit den zwei folgenden), fast fünfzig Jahre die Geschicke des Theaters und wurde danach vollkommen vergessen.

So wie so vieles vergessen wurde, denn in diesem Theater, wo es dauernd drunter und drüber ging, gab es für Rückblicke keine Zeit. Doch für das hundertjährige Jubiläum hat Nathalie Sergent mit einem dutzend Autoren ein fantastisches Buch zusammengestellt: 100 Jahre in 660 Seiten, 650 Abbildungen (oft zum allerersten Mal gezeigt), gute 3 Kilo schwer, mit mehr als tausend Geschichten für den Opern- und Musikfreund (Verlhac Verlag, 89 €). Zu den Autoren gehört auch Dominique Meyer, elf Jahre Direktor des Hauses, bevor er an die Staatsoper wechselte, der über die vielen Gastspiele der Wiener Staatsoper berichtet. Sein Nachfolger, Michel Franck, hat nun die ehrenvolle aber nicht leichte Aufgabe, dieses Jubiläum zu organisieren. Er entschied sich für einen akribischen Rückblick auf die erste Saison 1913, und alle Programmhefte der jetzigen Spielzeit sind gefüllt mit den wundervollen Dokumenten, die man auf dem Dachboden fand. Franck versucht, 2013 genau so viel Wagemut zu zeigen wie der Gründer vor hundert Jahren, Gabriel Astruc. Astruc eröffnete 1913 ein resolut neues Theater mit einer Kombination von „französischem Geschmack, englischem Komfort und deutscher Technik“.

Doch hinter dem kostbaren Marmor, den Skulpturen von Bourdelle, den Fresken von Vuillard und den Kristallleuchtern von Lalique verbarg sich die erste, damals total revolutionäre Theaterarchitektur in Beton. Genau so revolutionär war auch die erste Spielzeit, die am 31 März 1913 mit der Oper Benvenuto Cellini von Berlioz eröffnet wurde (seit der katastrophalen Uraufführung in 1838 nie mehr in Frankreich gespielt) und am 6. November mit der französischen Uraufführung von Boris Godunow endete. Astruc ging schon nach sechs Monaten Pleite, hatte jedoch in der kurzen Zeit internationale Musik- und Tanzgeschichte geschrieben, ein paar wichtige Stücke uraufgeführt (wie die Oper Penelope von Fauré) und für einen der gröten künstlerischen Skandale des XX. Jahrhunderts gesorgt: die Uraufführung von Stravinskys Sacre du Printemps in der „barbarischen Choreographie“ von Vaslav Nijinsky. Genau hundert Jahre später, am 29. Mai, wurde der Sacre du Printemps noch einmal gegeben. Aber jetzt gleich zwei Mal: in der liebevoll rekonstruierten Fassung von 1913 und einer neuen Fassung von Sasha Waltz. Der Abend wurde von ARTE ausgestrahlt und war auch – eine kleine Revolution in Paris – auf einem groen Bildschirm auf dem Rathausplatz zu sehen. Der wilde Sacre wurde danach noch in zwei anderen Choreographien gezeigt und auch noch durch drei andere Dirigenten & Orchester gespielt. So war er wörtlich „die Krönung“ (le sacre) der Jubiläumsfeierlichkeiten und sorgte für einen Andrang und eine internationale Aufmerksamkeit, die das Théâtre des Champs-Elysées seit seiner Eröffnung nicht mehr gekannt hat.

LE SACRE DU PRINTEMPS

Vaslav Nijinsky am 31.5.

Die ursprüngliche Choreographie des Sacre wurde 1913 nur fünf Mal in Paris (und drei Mal in London) getanzt – und danach nie mehr. Ab 1970 haben Millicent Hodson und Kenneth Archer in mühsamster Recherchearbeit die Produktion rekonstruiert, mit Hilfe von einigen über die Welt verstreuten Dokumenten (die im obengenannten Buch erläutert werden) und der damals fast neunzigjährigen Marie Rambert, 1913 die Assistentin von Nijinsky in Paris. Seit 1987 tourt das kalifornische Jeoffrey Ballet mit dem rekonstruierten Sacre durch die Welt und sorgte für eine wirkliche Renaissance der Ballets Russes von Serge Diaghilev, die seitdem an vielen großen Opernhäusern wieder gespielt werden.

Der Sacre von Nijinsky steht seit 1991 auf dem Spielplan der Pariser Oper und wird seit 2003 am Mariinsky in St Petersburg gegeben – zuletzt noch bei der Einweihung des neuen Mariinsky II am 3. Mai. In den letzten Jahren tauchte auch noch das Bühnenbild des zweiten Aktes auf, voller Totenköpfe (das man jedoch öfters auslässt). Igor Strawinski beschrieb sein Stück als „eine heidnische Feier: Alte Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen.“ Das hat Vaslav Nijinsky mit archaischen Tänzen ausgedrückt, die jeden klassischen Tänzer in Verlegenheit bringen. Denn anstatt gerade zu stehen, soll er sich krümmen und auf den Boden schauen und seine Füße nach innen setzen („en dedans“), was jedes normale Gehen oder Springen fast unmöglich macht.

Und das alles zu einer Musik, dem sogar ein professioneller Musiker schwer folgen kann. Dem Jeoffrey Ballet ist das 1990 auf dieser gleichen Bühne so gut gelungen, dass es fast eine Weltsensation war. Für das Ballett des Mariinsky ist es inzwischen eine Routine geworden und der Vorstellung fehlte leider der letzte Schliff – was sicher auch daran lag, dass sich der Dirigent noch auf der Generalprobe eifrig mit seinem Orchester beschäftigte und dem Ballet keine Zeit mehr ließ für eine Stellprobe. Valery Gergiev und das Orchester des Mariinsky waren in Hochform und spielten den Sacre so, dass man hörte, dass er in Russland komponiert worden ist: mit Verve, mit Kraft und mit Melancholie. Gergiev peitschte seine Truppen an, dass man sie bei diesem Opfertanz wirklich stöhnen hörte. „Ich war ein bisschen zu brutal“ meinte er stolz dazu in der Pause. Danach gönnte er der Choreographie von Sasha Waltz, mit genau der gleichen Musik, ganze fünf Minuten mehr…

Bilder (c) Vincent Pontet / Wikispectacle

LE SACRE DU PRINTEMPS

Sasha Waltz 31.5. + Pina Bausch 6.6.

Seit der Uraufführung vor hundert Jahren ist der Sacre mindestens durch 180 Choreographen (!) neu bearbeitet worden, von Mary Wigman bis zum jungen französischen Choreographen Thierry Thieû Niang, der letzten September eine sehr berührende Fassung zeigte mit 70-90 jährigen (!) Tänzern. Die meist bekannten und meist gespielten Sacres sind die von Maurice Béjart (Brüssel, 1959) und Pina Bausch (Wuppertal, 1975). Der Sacre von Béjart wurde schon öfters am Théâtre des Champs-Elysées gespielt, der Sacre von Pina Bausch wurde nun zum ersten Mal eingeladen – und hat auch seit dem Tod der Choreographin wirklich nichts von seiner unglaublichen Kraft und Animalität verloren. Für Sasha Waltz war es – wie sie es im ARTE-Interview erklärte – nicht leicht aus dem übergroßen Schatten von Pina Bausch herauszutreten, deren Sacre für sie „ein Meilenstein in der Geschichte des Tanzes“ sei. Das ist ihr jedoch gut gelungen, hauptsächlich wegen ihres guten Verständnisses von Musik (sie hat ja viel mit zeitgenössischen Komponisten gearbeitet). Ihre Choreographie ist ungemein musikalisch, aber nicht illustrativ.

Ihr Ansatz ist neu, indem sie sich in dem Bühnenbild von Pia Maier und der Beleuchtung von Thilo Reuther ganz von dem „Frühling“ von Nijinsky verabschiedet und auch von dem bei Pina Bausch so präsenten Element „Erde“. Ihr Sacre spielt ohne jegliches Grün, im Winter, in einem postindustriellen Zeitalter, auf einem alten Kohlenhaufen, in den ganz langsam ein goldener Speer eindringt. Der Natur wird nichts geopfert, sie wird verletzt, vielleicht sogar vergewaltigt. Das Opfer ist auch nicht mehr eine junge Frau, sondern unsere Gesellschaft, Männer, Frauen und Kinder. Das Ballet des Mariinsky tanzt dies alles so wie wir es noch nie gesehen haben – fulminant und sehr engagiert. Die Uraufführung war ein Riesenerfolg und wird sicher noch lange an vielen Orten gezeigt werden (mit der Kompanie Sasha Waltz & Guests). Die nächsten Daten sind schon angekündigt: an der Brüsseler Oper im September, an der Berliner Staatsoper im Oktober und in Luxemburg im Januar 2014.

Bilder (c) Vincent Pontet / Wikispectacle