Wuppertal: „Le nozze di Figaro“

Gleich in medias res: in Wuppertal erlebt man eine musikalisch ungemein inspirierte und szenisch entzückende, intelligente Aufführung von Mozarts „Figaro“. Dabei stellt sich beim anfänglichen Sehen des Bühnenbildes (wegen des offenen Vorhanges ausgiebig in Augenschein zu nehmen) erst einmal Skepsis ein. Johannes Schütz, der renommierter Ausstatter, bietet eine nicht sehr tiefe, rampenparallele Spielfläche mit bühnenhoher Rückwand, in welche vier Türen eingelassen sind. Der möbellose Raum ist total weiß, seine Nüchternheit wird von Neonlicht unterstrichen, welches aus einer vorderen, vergitterten Vertiefung hochstrahlt.

Die Türen werden dann ausgiebig in Aktion gesetzt. Zu jedem Orchesterschlag öffnen bzw. schließen sie sich. Das gesamte Opernpersonal: rein und raus, raus und rein. Ach, du lieber Gott, denkt man bei dieser berserkerischen Aktionslust zunächst, die tatsächlich etwas zu viel des Guten tut. Aber bei Mozarts Oper handelt es sich nun einmal um einen „folle journée“. Im übrigen beruhigt sich die Inszenierung von Joe Hill-Gibbins (sie wird von der English National Opera übernommen) nach dieser Introduktion entschieden, und das Öffnen der Türen verdichtet sich immer stärker zu Chiffren für Hintergründiges, Tiefenpsychologisches. Fast denkt man an Bartóks „Blaubart“.

Obwohl der Regisseur die Handlung absolut triftig erzählt, deckt er vor allem Emotionen und seelische Vorgänge auf, welche in anderen Inszenierungen zwar nicht übergangen werden, aber doch häufig an der Oberfläche verharren. Der brillianten Ideen von Joe Hill-Gibbins sind zu viele, als daß sie alle beschrieben werden könnten. Einige Beispiele nur. Bei ihrem „Dove sono“ ist die Gräfin auf der Bühne nicht alleine, ihre Worte sind an den zeitweilig ebenfalls vorhandenen Gatten gerichtet und imaginieren die Zeit einer glücklichen Vergangenheit. Beim Briefduett umgarnt sie ihn zusammen mit ihrer Zofe. Der Mann weiß erkennbar nicht, was auf ihn zukommt. Bei ihrer Rosenarie nimmt Susanna die Kopfbedeckung ab, welche sie als Gräfin erscheinen ließ. Hinter der Maske erscheint also ihre wahre Identität. Man versteht jetzt wirklich, an wen die liebenden Worte gerichtet sind. Hill-Gibbins besticht weiterhin mit dem Herausarbeiten unterschwelliger Empfindungen. So nähert sich die Gräfin Cherubino mit durchaus eindeutig erotischen Gesten. Im dritten Akt stößt sie ihn aber wütend beiseite stößt, als der Page mit Barbarina im Zug der Hochzeitspaare auftaucht.

Das „Voi che sapete“ mündet in ein kokettes Tänzchen à trois. Immer wieder bietet der Regisseur solche Momente von Situationskomik, welche das szenische Geschehen gewissermaßen entpsychologisieren. Andererseits läßt die Gräfin starke Verzweiflung spüren, als sie die (von ihr gewollte) Annäherung Susannas an den Grafen innerlich miterlebt. Das Zimmer ist jetzt übrigens (wie auch bei anderer Gelegenheit) hochgefahren und gibt die ebenerdige Bühne als zweite Spielfläche frei.

Brillianter Höhepunkt der Inszenierung ist der vierte Akt, das Gartenbild also. Die Bühne ist jetzt in den Hintergrund gefahren, der vordere Raum bleibt leer. Keine Büsche, hinter denen man sich verstecken könnte, was sonst ja oft neckisch übertrieben wird. Bei dieser szenischen Lösung gewinnen auch Rampenpostierungen einen tieferen Sinn. Sie wirken wie aus der Handlung gefallen und geben dem Zuschauer Gelegenheit zum Nachsinnen. Dieser von Dekorativem befreite „Figaro“ ist ein szenisches Ereignis und wurde in der Premiere vom Publikum begeistert gefeiert.

Julia Jones läßt Mozarts Oper mit Feuer und Flamme musizieren. Handfest Dramatisches überdeckt aber nicht die vielen subtilen Wirkungen. Das Sinfonieorchester Wuppertal orientiert sich an der historischen Aufführungspraxis. Ein eigens angeschafftes Hammerklavier begleitet die Rezitative mit Buffa-Eleganz und gibt gelegentlich sogar witzige Kommentare (wie beim stotternden Don Curzio).

Die Wuppertaler Aufführung beglückt auch wegen der Sänger nachdrücklich. An erster Stelle muß Anna Princeva genannt werden, welche u.a. durch viele Bonner Auftritte bekannt ist. Ihre Contessa ist (unterstützt von Astrid Kleins Robe) eine attraktiv schlanke Erscheinung mit starkem erotischen Appeal, und sie singt geradezu seraphisch. Etwas erdverhafteter wirkt die Susanna der spielfreudigen Ralitsa Ralinova, aber auch sie ist eine Mozart-Interpretin von erster Güte. Simon Stricker gibt einen heißblütigen, emotional brodelnden, mitunter fast cholerischen Conte, ohne vokal hysterisch zu werden. Auf das Erscheinungsbild von Sebastian Campiones Figaro gilt es sich ein wenig einzustellen. Einen Glatzkopf mit seltsamer Gesichtsschminke denkt man sich nicht gerade als Liebhaber-Typ (das Coverfoto des Programmheftes zeigt den Sänger übrigens noch mit Perücke). Aber er erspielt sich dann doch ein überzeugendes Rollenprofil, auch wenn Mozart-Eleganz seiner Stimme ein wenig abgeht.

Iris Marie Sojer ist eine junge, aufsteigende Mezzosopranistin und als Cherubino zum Anbeißen. Als Marcellina kehrt Joslyn Rechter nach Wuppertal zurück, wo sie lange Jahre fest engagiert war. Ihre Darstellung gibt viel Anlaß zum Schmunzeln; gesanglich ist sie top. Den Bartolo porträtiert Nicolai Karnolsky baßmarkant als vitalen Draufgänger, Mark Bowman-Hester erfreut mit seinen skurrilen Porträts von Basilio und Curzio. Trotz ihrer nur kurzen Barbarina-Arie macht Anne Martha Schuitemaker nachhaltig auf sich aufmerksam; irgendwann dürfte sie eine überzeugende Susanna sein. Als Papa Antonio poltert Marcel van Dieren angemessen. Nicht zu erwähnen vergessen sei der proper singende und spielfreudige Chor, einstudiert von Markus Baisch.

Eas dürftig ist nur das Programmheft ausgefallen. Besetzung, Inhaltsangabe samt Vorgeschichte, Zeichnungen eines Comic-Wettbewerbs für Schüler und Fotos von der ersten Hauptprobe – das ist schon alles.

Christoph Zimmermann 15.4.2019

Bilder (c) Theater Wuppertal