Berlin: „Stella“

Schillernder Charakter

Kaum zu glauben, dass das Schicksal der jüdischen Deutschen oder deutschen Jüdin Stella nicht längst das Interesse von Roman- oder Theaterschriftstellern, von Filmregisseuren oder von Komponisten gefunden hat, dass abgesehen von ganz wenigen künstlerischen Verarbeitungen erst jetzt mit dem deutschen Singspiel “Stella“ die Figur auf eine Bühne, die der Neuköllner Oper, gefunden hat. Angesichts der Ankündigung allein mit dem Vornamen der Stella Goldschlag hatte man spontan an Goethes Frühwerk um ein Verhältnis zu Dritt, mit revidiertem Schluss den Übergang von Sturm und Drang zur Klassik markierend, gedacht, nicht aber an „Das blonde Gift vom Kurfürstendamm“, an der Neuköllner Oper „Das blonde Gespenst vom Kurfürstendamm“ genannt. Vielleicht empfand man das Thema, eine Jüdin als „Greifer“, als Handlanger der Gestapo beim Aufspüren versteckter Juden in Berlin, als zu heikel oder die Figur der Stella als zu schillernd zwischen verwerflich und verständlich, nicht vorhersehbar die Gefühle der Zuschauer in die Richtung des Mitgefühls oder des Abscheus lenkend?

Die blonde, blauäugige Schönheit, Tochter zweier Musiker, die erst mit den Nürnberger Rassengesetzen von ihrer jüdischen Herkunft erfuhr, strebte eine Karriere als Sängerin an, musste jedoch Modezeichnen studieren, ehe sie zur Arbeit zwangsverpflichtet wurde, floh, wurde gefangengesetzt und von der Gestapo gefoltert, entkam bei einem Luftangriff aus dem Gefängnis, stellte sich aber in dem Sammellager, in dem auch ihre Eltern waren. Um das Leben ihrer Eltern und ihr eigenes zu retten, verpflichtete sie sich dazu, Juden in Berlin aufzuspüren, sie sogar zu verhaften, denn ihre Erfolge waren so beachtlich (man weiß nicht, ob ihre Opfer Hunderte oder gar Tausende waren), dass sie sogar eine Pistole von der Gestapo bekam, Selbst nachdem ihre Eltern nach Theresienstadt und später nach Auschwitz deportiert worden waren, setzte sie ihre Arbeit fort. Während der Schlacht um Berlin floh sie nach Liebenwalde, bekam eine Tochter, wurde verraten, als sie die sowjetische Geheimpolizei mit der Gestapo gleichsetzte, und zunächst der Jüdischen Gemeinde übergeben, bei der sie ihren Status als Opfer erreichen wollte, die sie aber kahlscheren ließ und den Sowjets übergab. Von den Sowjets wurde sie zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt, die sie zunächst in Sachsenhausen, dann in anderen Lagern und Zuchthäusern abbüßte.

Danach verurteilte sie ein deutsches Gericht zu ebenfalls zehn Jahren und sorgte, da bereits abgesessen, damit für ihre Freilassung. Stella Goldschlag wurde Christin, stramme Antisemitin, auch durch die Heirat mit einem Nazi, dem dritten von fünf Ehemännern. Der Kontakt zu ihrer Tochter wurde ihr verwehrt. 1992 erschien das Buch von Peter Wyden, das ein Jahr später ins Deutsche übersetzt wurde. Zwei Jahre später nahm sie sich im Alter von 72 Jahren das Leben, bis zum Schluss sich uneinsichtig als Opfer und nicht als Täterin fühlend. 2016 nun haben Peter Lund (Text) und Wolfgang Böhmer ( Musik) das Stück geschaffen, das man auch als Musical bezeichnen könnte und das Musik im Stil der Zeit, in der es spielt, mal in der Art der Comedian Harmonists, mal wie Brecht/ Weil klingend, in jedem Fall eingängig und gut singbar, bietet.

Der Besucher der Aufführung der Neuköllner Oper tut gut daran, sich die wichtigsten Lebensdaten der Stella einzuprägen, da er sonst die nicht chronologisch aufgebaute Geschichte, die sich in einer Art Container abspielt, nicht versteht. Vielleicht um deutlich zu machen, dass jede Lebensgeschichte wie eine Medaille zwei Seiten hat, steht dieser mal durchsichtige, mal wie aus Spiegeln bestehende Spielraum mitten im Publikum (Ausstattung Sarah-Katharina Karl). Hier spielen sich in loser Folge die Szenen aus dem Leben der Stella, aber auch aus dem Verhör von Adolf Eichmann (Markus Schöttl als der typische, jede Verantwortung ablehnende Schreibtischtäter) ab, wobei besonders die zwischen Stella und ihrem Vater, von David Schroeder mit eindringlichem Charaktertenor gesungen, im Gedächtnis bleiben.

Eindringlich verkörpert Jörn-Felix Alt mit farbigem Bariton u.a. den Ralf Isaaksohn, einer der Ehemänner Stellas und wie sie ein „Greifer“. Den erfolgreichen Passfälscher Samson Schönhaus, der erst 2015 verstarb, singt und spielt Samual Schürmann mit markantem Bariton. Victor Petitjean ist mit präsentem Bass der SS-Mann Walter Dobberke. Eine ganz und gar großartige Leistung vollbringt in der Titelpartie Frederike Haas, eine perfekte Musicaldarstellerin, die gleichermaßen imponierend singen, schauspielern und tanzen kann. Die Szene mit der Tochter Yvonne (Isabella Köpke) ist die einzige problematisch wirkende, da ausgerechnet hier der Charakter der Stella am negativsten erscheint, ohne dass es für sie Belege geben wird. Regisseur Martin G. Berger, von dem es einen einfühlsamen Artikel im Programmheft gibt, führt seine Darsteller mit sicherer Hand durch das Labyrinth der Schauplätze und Ereignisse. Die oberhalb des Containers befindliche Videowand wird von Roman Rehor mit erhellenden, ergänzenden und vertiefenden Bildern bedient. Den Sound der Zeit treffen sehr gut die sieben Orchestermusiker unter der Leitung von Tobias Bartholmeß, der zugleich der Klavierspieler ist.

Fotos Matthias Heyde

27.6.2016 Ingrid Wanja