Premiere am 2.10.2021
The Moon of Berlin Mitte
„Das berührt mich überhaupt nicht“, meinte meine Nachbarin bereits zur Pause und ahnte nicht, dass sie damit der Aufführung von Brecht/Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny das höchstmögliche Lob ausgesprochen hatte, wollten doch beide nicht „Gefühle wecken, sondern Betrachtungen auslösen“. Einen Herrn im Publikum allerdings regte das blutige Abschlachten nebst Blendung des Jim Mahoney, das diesem anstelle eines Stricks am Galgen zuteil wurde, so sehr auf, dass er ein „brutale Scheiße“ in den Saal rief. Krassester Naturalismus mit viel Erbrochenem und Gepinkeltem, so auf den Pianisten, auch wieder wie bereits beim Oedipe Freude am Wühlen in den Eingeweiden hier eines erlegten Widders stand neben erfreulicher, aber doch aussagekräftiger Dezenz wie das Verlegen der „Liebesakte“ in den unsichtbaren Untergrund, wobei die Brutalität des Geschehens doch deutlich wurde durch die beiden Eimer, die die Kaugummis der Freier aufnehmen und ihnen zum Händewaschen dienen mussten.
Otto Klemperer hätte sich nicht zu fürchten brauchen. Eindrucksvoll gespielt wie gesungen wurde das Lied von den Kranichen, wenn das Nicht-Liebespaar zu zartesten Tönen fähig ist und doch Melancholie beim „bald“, nämlich der Trennung mitschwingt. Kaum ein Regisseur hätte es wie Barrie Kosky gewagt, Dreieinigkeitsmoses einen Christen bleiben zu lassen, aus Fatty, dem Prokuristen jedoch einen Juden zu machen mit Schläfenlocken und Kippa, die ihm beide jedoch bereits zu Beginn des Abends abhandenkommen. Gott wird in dieser Produktion zum Roboteräffchen, Mahagonny erfährt nur eine vorübergehende Vernichtung und eine hurtige Wiederauferstehung, was dem Ganzen noch mehr als eine Prise Pessimismus verleiht, und irgendwie fragt sich auch der begeisterungswillige Besucher, ob in Corona-Zeiten etwas die Gemüter Aufhellendes, Hoffnung und Zuversicht Verbreitendes nicht angemessener gewesen wäre.
So aber empfängt den Besucher eine abgrundtiefschwarze Bühne (Klaus Grünberg), später werden viele Spiegel sichtbar, die das Bühnenpersonal quasi verdreifachen, das sich vor der Pause in zeitlose Gewänder gehüllt hat, während es durchweg, abgesehen von Jim, nach der Pause schwarze Glitzerkleidung trägt (Klaus Bruns). Das verstärkt noch einmal den Kontrast zwischen optischer Kälte und hitziger Musik.
Barrie Kosky erweist sich einmal mehr als exzellent in der Personenführung, sei es der Chor, der beinahe wie ein corps de ballet bewegt wird und der dazu phantastisch singt (Einstudierung David Cavelius), seien es die Solisten, so zum Beispiel der bruchlose Übergang, wenn Freund Bill plötzlich zur seelenlosen, tanzenden Glitzerpuppe wird. Ainãrs Rubiķis hält das Orchester der Komischen Oper zu straffem, elegantem Spiel an, vermag das Sehnsuchtstriefende wie das Knallige der Partitur gleichermaßen hörbar zu machen. Die Zwanziger, ob golden oder nicht, erfahren eine prachtvolle Auferstehung, die Produktion scheint sich in eine Reihe zu stellen mit Fabian und Babylon, allerdings nur akustisch, optisch dominiert Zeitlosigkeit. Und wenn die Choräle, obwohl verfremdet dargeboten, ihre feierlich-besänftigende Wirkung nicht verfehlen, dann sei das dem arg strapazierten Zuschauer vergönnt.
Nadine Weissmann hat für die Leokadja Begbick viel Erotik in der Singstimme, bleibt aber über weite Strecken unverständlich im gesprochenen Dialog. Phantastisch ist in jeder Hinsicht Allan Clayton mit prachtvollem Tenor und, Brecht mag es wollen oder nicht, durchaus beim Zuschauer Mitleidsgefühle wachrufend. Daneben behaupten kann sich auch der zweite Tenor Ivan Turšić als Fatty. Vorzüglich ist Tom Erik Lie mit sonorem Bariton als Bill. Ihrem schönen Sopran auch etwas Verruchtheit sowie viel Kindlichkeit unter Verleugnung der Opernsängerin beizumischen gelingt Nadja Mchantaf als Jenny Hill. Jens Larsen gerät streckenweise vokal wie darstellerisch außer Facon als Dreieinigkeitsmoses. Da wäre weniger oft mehr. Tijl Favetys gibt einen leicht dumpf klingenden Joe, Philipp Kapeller, Allan Clayton und Adrian Kamer ergänzen zufriedenstellend als Jack, Jim und Tobby das Ensemble. Ein schmucker Mann am Klavier ist Xin Tan.
Und was meinte meine Nachbarin noch? „Das erlebe ich jeden Tag in Berlin, dafür muss ich nicht in die Oper gehen.“
3.10.2021 Ingrid Wanja