Berlin: „Die Gezeichneten“

Premiere am 21.1.2018

Auf die falsche Schiene gesetzt

Wenn der Premierenabend am 21.1. in der Komischen Oper mit Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ ein überlanger zu sein schien, so lag das nicht an den akustischen, sondern allein an den optischen Eindrücken, zum einen dem unglücklichen Einfall, die Geschichte unter Pädophilen spielen zu lassen, zum anderen an der bis zur Pause sterilen weißen Bühne, auf der Menschen in heutiger Alltagskleidung (Inge Krügler) der üppig wuchernden, teilweise nicht unkitschigen Rhetorik des Librettos, das von „Händen, getränkt vom Duft ihres Haares“ wissen will, und der alle Reize auskostenden gerade noch Tonalität eines ungeheuren Orchesterapparats (die Harfen mussten in den Zuschauerraum verbannt werden) wenig entgegen zu setzen haben. Bereits vor dem Beginn der Vorstellung sieht man Videoaufnahmen eines traurigen Jungengesichts oder das Riesenrad aus dem Plänterwald, nach Regisseur Calixto Bieito das Symbol für den Kreislauf, in dem Alviano steckt und aus dem er ausbrechen will.

Mit dessen Hang zu kleinen Jungen, von einer Puppe, die er herzt, verkörpert, oder auch von einem blonden Knaben aus dem Kinderchor wird die Leidenschaft für Carlotta, die ihn malt, aber nicht dauerhaft liebt, entwertet, ihr Verlust an den schönen, aber gewissenlosen Tamaro hinnehmbar, das allgemeine Morden am Schluss von zweitrangiger Bedeutung angesichts der tot in der kleinen Parkeisenbahn (Missbrauchsfall im FEZ in der Wuhlheide!) dahinfahrenden Kinder. Und wenn dann klar wird, dass auch Carlotta ein Missbrauchsopfer ihres Vaters war, festlich gekleidete kleine Mädchen als Geburtstagsgeschenke liebevoll verpackt überreicht werden, Carlotta sich im Knabenanzug anbietet, dann wird die eigentliche Thematik der Oper immer mehr verdrängt, nicht zuletzt von den in eindeutigem Bewegungsablauf sich wohl über Kindergesichter beugenden Männerköpfen.

Nach der Pause füllt Kinderspielzeug aller Arten die Bühne (Rebecca Ringst), Leuchtstäbe senken sich herab und der Schriftzug „Elysium“ herunter, in das nach Libretto die Töchter von Genueser Bürgern entführt wurden, hier aber Kinder beiderlei Geschlechts der Lust der Adelsgesellschaft zur Verfügung stehen. Ein grüner Riesenteddy dient Carlotta zur Selbstbefriedigung, sie ihrerseits verrichtet das Liebeswerk mit ihren Pumps an Tamaro („Dir entgegen, mein Süßer!“) und immer wieder reden bzw. singen die Personen ausführlich über ihre jeweilige Befindlichkeit, was bei der von Bieito gewählten Konstellation, die aber aus Rücksichtnahme auf die kindlichen Darsteller nicht konsequent oder in der von ihm sonst geübten Drastik durchgezogen werden kann, nur noch auf wenig Interesse der Zuschauer stoßen kann. So nimmt es nicht wunder, dass am Schluss er und sein Team auch Buhrufe zu hören bekommen. Eine Ansiedlung der Geschichte, wenn nicht die Originalzeit Renaissance möglich ist, im Wien vor dem Ersten Weltkrieg hätte der Musik und der Handlung besser entsprochen.

So anfechtbar die Umgestaltung der Handlung (auch im Programmheft taucht nicht die eigentliche auf) ist, so unangefochten war alles, was aus dem Orchestergraben und von der Bühne her klang. Stefan Soltesz zauberte mit dem Riesenapparat, ohne jemals die Sänger in Bedrängnis zu bringen, brachte den üppigen Reichtum der Partitur zur Geltung und legte deren Strukturen offen- eine großartige Leistung, die vom Publikum entsprechend honoriert wurde.

Peter Hoare sang mit prägnantem Charaktertenor und ausgezeichneter Diktion den Alviano, vermochte dessen Zerrissenheit auch eindrucksvoll darzustellen. Michael Nagy war mit markantem, kraftvollem Bariton der Verführer Tamare, der noch etwas mehr Zwielichtigkeit vertragen hätte. Die beiden Bässe gaben unangefochten dem Adorno/Capitano (Joachim Goltz) und dem Podestà (Jens Larsen) Stimme und Gestalt.

Sensationell war die Carlotta von Ausrine Strooper, bald Salome an der Staatsoper und mit einem schlanken, aber in Farben und Nuancen wunderbar schillernden Sopran und deshalb auch für eine Strausspartie bestens geeignet. Aus der Schar der Edelleute ragte Tom Erik Lie durch eine wahrhaft aristokratisch-arrogante Haltung heraus. Christiane Oertel war die seltsam elegante Haushälterin Martuccia, Katarzyna Wlodarczyk hatte eine warm klingende Stimme für die hier eine völlig andere Rolle spielende Ginevra und Mirka Wagner sowie Emil Lawecki mussten sich in Rosa bzw. Hellblau wohl auch als Missbrauchsopfer präsentieren.

21.1.2018 Ingrid Wanja