Premiere 20.12.15
Maria Agresta als „andere Norma mit Herz und Seele
Wie relativ ist doch unser künstlerisches Urteil – oder besser gesagt: wie abhängig vom Kontext. Als der Theaterregisseur Stéphane Braunschweig (Paris, 1964) sich ab 1992 in die Opernregie vorwagte, waren wir im Allgemeinen nicht sehr begeistert: immer die gleichen grauen Einheitsbühnenbilder, dieselben Alltagskostüme und das Gefühl, er lasse die Sänger ganz alleine auf der Bühne stehen. Doch zwanzig Jahre später erleben wir das ganz anders. Seitdem fängt das „deutsche Regietheater“ an, in Paris Fuß zu fassen und am gleichen Abend der „Norma“-Première strandete die (letzte Woche rezensierte) Première der „Damnation de Faust“ an der Pariser Oper in einem Buh-Orkan.
Nach einem solchen „Overkill“ an (dummer) Regie erschien die leere Einheitsbühne, die uns früher so langweilte, plötzlich als eine sehr willkommene Oase der optischen Ruhe, die der Musik und den Sängern allen Raum ließ. Und wie erfreulich zu sehen, dass es auch noch Regisseure gibt, die mit Sängern an Rollenprofilen arbeiten, und die eine Geschichte inszenieren, anstatt sie zu kommentieren. Plötzlich erscheint es fast unwirklich, dass ein Regisseur an einem Abend „nur“ drei Requisiten braucht: eine kleine heilige Bonsai-Eiche, eine geweihte Sichel und einen Gong. Bei Normas berühmter Arie „Casta Diva“ genügte ein Lichteffekt, um den Bonsai in einen großen Baum zu verwandeln, in dessen riesigen Schatten die Sängerin, erst eine kleine Frau in grauem Mantel, zu einer zeitlosen, überlebensgroßen Priesterin mutierte – einer „Projektion“ der Menge, die eine Führerin braucht. So poetisch, mystisch und dazu auch noch intelligent interpretiert haben wir diese Arie noch nie gesehen und gehört.
Maria Agresta (geb.1978 in Vallo della Lucania,) steht noch am Anfang einer sicherlich großen Karriere. 2011 sang sie ihre erste Norma und im Frühling debütierte sie als Nedda an den Osterfestspielen in Salzburg. Sie debütierte letztes Jahr in Paris als Elvira in Bellinis „Puritani“, ohne dass sie einen überwältigenden Eindruck auf uns machte (siehe Merker 1/2014). Aber diese Norma war, ist und bleibt wirklich sehr besonders. Denn Maria Agresta stellt sich der mörderisch langen Partie ohne zu mogeln und singt jede für Giulia Pasta geschriebene Verzierung aus, ohne einen Spitzenton zu überspringen.
Und gleichzeitig präsentiert sie – mit Hilfe des Regisseurs – ein wirklich eigenes Rollenprofil. Seit Maria Callas kennen wir Norma vor allem als stolze, hehre Oberpriesterin mit einem metallischen, fast kriegerischen Timbre. Eine strenge Vestalin mit einer „celeste austerità“, so wie es die junge Priesterin Adalgisa ausdrückt, die es nicht wagt, ihr zu gestehen, dass sie sich in einen Mann verliebt hat. Doch Maria Agresta präsentiert uns eine junge, leidenschaftlich liebende Frau und Mutter – was Norma bis jetzt nur heimlich war. Keine Callas, eher eine Tebaldi oder Freni (an die sie manchmal erinnert). Und so werden aus den zwei Gegenspielerinnen zwei Schwestern, zwei Frauen die mit der Liebe kämpfen und sich gegenseitig ihre Schwächen und Zweifel eingestehen. Denn anstatt des üblichen Kontrastes Sopran und Alt (oder Mezzo-Sopran und Sopran), stehen jetzt zwei „lirico spinto“ Soprane auf der Bühne, deren Stimmen wunderbar harmonieren. Sonia Ganassi ist eine ebenso warme und überzeugende Adalgisa – sehr viel besser als in den letzten Rollen, in denen wir sie in Paris gehört haben (siehe Merker 5/2015). Neben diesen beiden „Schwestern“, die vielleicht die Rollen ihres Lebens gefunden haben, verblassen alle anderen Sänger.
Marco Berti bekam als Pollione in allen Vorstellungen vernichtende Kritiken: die Presse rügte seinen „malcanto“. Im zweiten Akt sang er ganze Phrasen fast einen halben Ton zu tief, sodass ein missmutiges Raunen durch den Saal ging. Riccardo Zanellato war ein solider Orovese und Sophie Van de Woestyne und Marc Larcher überzeugten als Clotilde und Flavius. Dirigent Riccardo Frizza leitete im Juli den „Nabucco“ in Verona und wird im Januar „Maria Stuarda“ an der Met in New York dirigieren – er kennt also sein Handwerk. Er soll – so Bellini – den Sängern einen Teppich vor den Füßen ausrollen, auf dem sie tanzen können. Doch anstatt eines feinen Teppichs voller Farben, bekamen sie nur einen eintönigen Bodenbelag, auf dem man zumindest nicht ausrutschte. Das lag vielleicht auch an dem nicht sehr inspirierten Orchestre de chambre de Paris und dem soliden, aber hier nicht verfeinerten Choeur de Radio France. Die Produktion wird weiter nach Nürnberg und Saint-Etienne weiterreisen – vielleicht noch mit Maria Agresta und Sonia Ganassi. Denn es steht außer Frage, dass sie nach einer solchen Leistung diese Rollen bald an den großen Häusern singen werden. Wir freuen uns schon!
Photos (c) Vincent PONTET
Waldemar Kamer 21.12.15
Mit freundlicher Genehmigung MERKER-online (Wien)