Bonn: „Die Winterreise“, Franz Schubert

Im Rahmen des Ost-West-Festivals NRW, das sich inhaltlich dem Frieden verschrieben hat, gestalteten am 13.10.2023 der britische Tenor Ian Bostridge und der belarussische Pianist und Dirigent Rostislaw Krimer Franz Schuberts „Winterreise“. Dass Bostridge sich mit diesem Zyklus von 24 „schaurigen Liedern“ intensiv auseinandergesetzt hat, bewies er mit seiner 2015 erschienenen Monografie „Schuberts Winterreise“, Originaltitel: „Schubert´s Winter Journey – Anatomy of an Obsession“, die neben detaillierten Überlegungen zur Aufführung auch historische Hintergründe erläutert. Ian Bostridges eigenwillige Interpretation des Liederzyklus mit Rostislav Krimer am historischen Blüthner-Flügel von 1859 beeindruckte das Publikum.

Es gibt wohl kaum einen Liederzyklus, der häufiger aufgeführt und eingespielt wurde als Schuberts „Winterreise“, die er kurz vor seinem Tod im Alter von 31 Jahren am 19. November 1828 fertigstellte. Die zu Grunde liegende Gedichtsammlung des Gymnasiallehrers Wilhelm Müller, die Schubert vertonte, kann als Prototyp romantischer Gedichte über Liebesleid und Todessehnsucht gelten, sie wurde durch Schuberts Musik unsterblich.

@ Pavlo Demchenko

Joachim Kaiser schreibt 1968 im fono forum anlässlich einer Bewertung von neun der damals vorliegenden Einspielungen auf Langspielplatte: „Die Winterreise ist Schuberts letzte, reinste und kostbarste Liedfrucht, entstanden 1827, in einer Zeit also, da Krankheit und das verzehrende Feuer seinen Geist und Körper längst gezeichnet hatten. … In dieser Stimmung schlugen die Verse Wilhelm Müllers mit ihrer Resignation und romantischen Todessehnsucht, mit ihrer Ausweglosigkeit in Schubert verwandte Saiten an. … Müller starb 1827, Schubert ein Jahr danach. Daraus aber erklärt sich jener seltsame Zwiespalt zwischen Jugendlichkeit und Resignation des Alters, welcher „Die Winterreise“ prägt. Die Stimmungen und emotionellen Ergüsse der ‚Winterreise‘ sind ohne Zweifel die eines noch jungen Menschen; die ausweglose Qual, die hier gestaltet ist, gehört dem Ende des Lebens zu. Diese Spannweite nachzuvollziehen ist vielleicht das größte Problem, vor dem der Interpret der ‚Winterreise‘ steht.“

Die Interpretation dieser Lieder ist eine Gratwanderung zwischen Natürlichkeit und Manierismus. Meine erste Begegnung mit diesem Werk war 1978 mit Dietrich Fischer-Dieskau und Wolfgang Sawallisch am Flügel im ausverkauften Herkulessaal in München, und ich war so ergriffen, ja, verstört, von dieser einsamen Wanderung eines Todgeweihten im bitterkalten Winter, dass ich sicher 30 Jahre lang diese Lieder nicht mehr hören wollte.

Ian Bostridge wählte die Anordnung der Lieder, wie sie der Dichter Wilhelm Müller festgelegt hat. Sie weicht nach „Der Lindenbaum“ von der Schuberts ab. Müller hatte zunächst 12 Gedichte veröffentlicht und später weitere 12, die Schubert ebenfalls komponierte und als zweiten Teil anfügte. Müller hat in einer Gesamtausgabe die später geschriebenen Gedichte zwischen die anderen gesetzt. Dadurch ergibt sich ein etwas anderer dramatischer Spannungsbogen. Mitten im Takt setzt der Wanderer bei „Gute Nacht“ ein. Seine bereits im „Lindenbaum“ greifbare Todessehnsucht wird in „Das Wirtshaus“ immer spürbarer. Im Fieberwahn träumt er von Irrlichtern, bunten Blumen und Nebensonnen, und am Ende gesellt er sich zum Leiermann. Im Klavierpart endet der Leierklang, und man kann im leisen Verklingen seine eigene Vision imaginieren. Ian Bostridge knüpfte in seiner Interpretation an Dietrich Fischer-Dieskau an, dessen Phrasierung und Emotionalität er weitgehend übernahm und sogar noch steigerte. Dadurch weckte er große Empathie im Publikum. Wie nach einer Bach-Passion setzte eine ausgedehnte Stille ein, als die letzten Takte des „Leiermanns“ verklungen waren. Dann zaghafter Beifall, der sich in lebhaften Applaus steigerte.

Der 1964 geborene Ian Bostridge, der vor seiner Karriere als Liedinterpret nach seiner Promotion über „Hexerei“ als Historiker in Oxford tätig war, hat nie eine Musikhochschule besucht. Er steht offenbar in der Tradition mancher Opernsänger, die diese Lieder wie Opernarien gesungen haben. Die Dynamik seiner hell timbrierten lyrischen Tenorstimme geht vom geraunten Pianissimo bis zum Forte mit an- und abschwellenden Tönen, die alle der bedingungslosen Empathie dienten. Er setzte auch seine Körpersprache ein, um die Verzweiflung des Todgeweihten zum Ausdruck zu bringen. Dass er mit dieser Performance sein Publikum fesselte steht außer Frage.

An deutschen Musikhochschulen werden andere Kriterien in den Vordergrund gestellt. Das Kunstlied ist eben keine Oper, und man sieht das Lied-Duo als Einheit, bei der sich beide Künstler intensiv austauschen und der Sänger sich in seinem Ausdruck und in seiner Körpersprache durchaus auch mäßigt, um dem Klavierpart mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Das Ideal ist ein wenig wie bei Brechts epischem Theater, bei dem der Zuschauer sich eben nicht unmittelbar in den Protagonisten einfühlen soll. Der mitunter expressionistische Klavierpart der „Winterreise“, der weit über die Tonsprache der Zeit Schuberts hinausgeht, ist mehr als die Begleitung der Singstimme. Pianist Rostislaw Krimer blieb dezent im Hintergrund, schon weil Bostridge die Aufmerksamkeit des Publikums absorbierte.

Die wahre Sensation ist Bostridges Monografie über die „Winterreise“, die ich mir anlässlich des Konzerts besorgt hatte. Der promovierte Historiker ordnet Schubert und seinen Liederzyklus überaus kenntnisreich in den historischen Kontext des napoleonischen Russlandfeldzugs ein, bei dem zahlreiche deutsche und österreichische Soldaten auf der Seite Napoleons beteiligt waren. Sie mussten in Russland Eiseskälte und klirrenden Frost erleben. Auch Schuberts Einstellung zur Religion wird reflektiert und auf das Lied „Mut!“ bezogen. Daneben erzählt Bostridge zahlreiche Anekdoten von seinen Auftritten als Liedsänger.

Der 1989 eröffnete Kammermusiksaal des Bonner Beethovenhauses ist mit seiner herausragenden Akustik der ideale Ort für einen Liederabend und für Kammermusik jeder Art.

Ursula Hartlapp – Lindemeyer, 20. Oktober 2023

Besonderer Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN


Die Winterreise
Franz Schubert

Bonn, Beethovenhaus
Kammermusiksaal
18. Oktober 2023

Gesang: Ian Bostridge
Klavier: Rostislaw Krimer