Hagen: „American Mother“, Charlotte Bray (zweite Besprechung)

Zum Ende seiner Amtszeit als Intendant des Stadttheaters Hagen präsentiert Francis Hüsers die von ihm in Auftrag gegebene erste abendfüllenden Oper der britischen Komponistin Charlotte Bray American Mother als Uraufführung. Das Libretto von Colum McCann basiert auf dem gleichnamigen, teils autobiographischem Buch von Colum McCann und Diane Foley. Diane Foley ist die Mutter des 2014 ermordeten Journalisten James Foley. Der und mit ihm drei weitere britische und US-amerikanische Geiseln wurde 2014 von Alexanda Kotey, einem Briten und Mitglied des Islamischen Staates, in Syrien umgebracht – das vom IS verbreitete Video von der Enthauptung löste weltweit Entsetzen aus. Andere westliche Geiseln kamen nach Lösegeldzahlungen frei, jedoch nicht Foley, da die amerikanische Regierung unter Obama jegliche Verhandlungen ablehnte und auch die Familie Foleys davor warnte, privat die Lösegeldsumme von etlichen Millionen US-Dollar aufzutreiben. Kotey konnte als einer der Mörder identifiziert werden und wurde von den Syrischen Demokratischen Kräften gefangen genommen. In die USA überstellt, wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt unter der Bedingung, sich den Angehörigen seiner Oper zu stellen.

© Volker Beushausen

Das Setting der Oper erinnert an Jake Heggies Erfolgsoper Dead Man Walking, nur dass jetzt die ebenfalls katholische, gläubige Mutter des Opfers und nicht eine Gefängnisseelsorgerin dem Täter gegenübersitzt. Denn sie besuchte ihn nach seiner Verurteilung zweimal, um ihn und seine Motivation kennenzulernen. Dabei begleitete sie auf ihren Wunsch der bekannte Schriftsteller Colum McCann, der ein Foto gesehen hatte, auf dem James Foley ein Buch von ihm liest, und verschriftlichte diese Begegnungen und deren Hintergründe. Für sein Libretto verwendet McCann nur die Aufzeichnungen über die Besuche und verzichtet auf die umfangreichen politischen und erläuternden Passagen seines Buches. Stattdessen ergänzt er das Bühnenpersonal um James Foley selbst und um die Mutter Koteys. Foley berichtet in kurzen Statements aus verschiedenen Situationen rückblendenartig über sein Schicksal und greift am Ende in die Entwicklung ein, wenn er leidenschaftlich seine von Menschlichkeit und Zuneigung geprägten Werte vertritt und um Verständnis füreinander wirbt. Koteys Mutter reklamiert für sich, auch ihren Sohn verloren zu haben. Beide Mütter sind sich einig, dass der Verlust von Söhnen typisch für einen Krieg ist und die Mütter am meisten darunter leiden. Darüber hinaus darf der Gefängniswärter seinen Hass auf Kotey und dessen Gott aus tiefster Seele, nämlich in tiefsten Basstönen, ausspeien und am liebsten Selbstjustiz üben lassen. Er repräsentiert den typischen Stammtischhelden und Boulevardzeitungsleser. Schließlich tritt der Chor angelehnt an die griechische Tragödie in Erscheinung, indem er wichtige Worte oder Satzteile von Mutter und Sohn Foley wiederholt und damit für das Publikum spricht. Zentral sind freilich die Monologe Diane Foleys, die geprägt sind von Zweifeln, Trauer und letztlich Hoffnung, sowie die Dialoge mit Alexanda Kotey. Der vertritt zunächst den typischen soldatischen Standpunkt, auf Befehl gehandelt zu haben. Mehr Sympathie weckt er dann mit seiner Geschichte als jemand, der aus dem Londoner Prekariat stammt, in der Religion Halt findet und für sie kämpfen will. In Syrien befreite er ein Mädchen aus Trümmern, die eine westliche Drohne erzeugt hat. Zudem hat er drei Töchter, die er wohl nie wieder sehen wird. Spätestens hier hat er Mitleid bei Diane Foley geweckt, die zugibt, sein Kummer sei auch ihr Kummer. An diesem Punkt kann man auch sagen, dass es in der Oper um zwei Männer geht: Beide im Prinzip gutherzig und religiös fundiert. Der eine aus privilegierten Verhältnissen stammend mit allen Möglichkeiten, die Welt zu verbessern, der andere jedoch in die Fänge einer brutalen Organisation geraten und der im Gruppenzwang nicht in der Lage ist, das Gemeinsame mit seinem Gefangenen zu erkennen. Am Ende bittet Diane Foley ihr Gegenüber, ihr die Hand zu reichen, was er ablehnt – ein verheirateter Muslim gibt keiner fremden Frau die Hand. Doch ihr und des Chores Insistieren lässt ihn letztlich doch einschlagen – ein Akt der Befreiung und der Erlösung.

Die britische, in Berlin lebende Komponistin Charlotte Bray (geboren 1982) hat sich bereits 2023 mit ihrem Orchesterwerk A Dark Doorway mit diesem Sujet beschäftigt. Ihre Musik ist zeitgemäß, aber gut hörbar. Sie beherrscht ausgehend von Klangflächen die Entwicklung von Steigerungen, den Wechsel und die Kombination verschiedener Klangfarben und die Wiedergabe von Stimmungen. Mal klingt es zart und verletzlich, mal stark und zuversichtlich, aufpeitschend und schneidend beim Wärter, immer abhängig vom Text. Die Orchesterbehandlung ist sehr sängerfreundlich, die Gesangspartien aber durchaus herausfordernd. Das gilt vor allem für die Partie der Diane Foley, aber auch für Alexanda Kotey, der oft in Nonen und Staccati singen muss. Allerdings ist der Schluss verstörend, denn die Oper klingt fast kitschig mit leisen Glockentönen aus. Diese bringt man eigentlich mit Kirche in Verbindung, obwohl Islam und Christentum zuvor gleichwertig behandelt wurden.

© Volker Beushausen

Nicht nur mit der Uraufführung von American Mother, sondern auch mit der Verpflichtung von Travis Preston als Regisseur ist dem Theater Hagen ein Coup gelungen. Der weltweit erfolgreich tätige Theatermacher bringt die Oper mit viel Respekt für das Sujet und die noch lebenden beiden Hauptpersonen auf die Bühne. Er betont das Allegorische der Oper und verzichtet auf reale Bezüge und aufgesetzte Handlung. Auch der für Bühnenbild und Kostüme verantwortliche Christopher Barreca kommt aus den USA. Ein Tisch und zwei Stühle auf einer über den Orchestergraben reichenden Plattform reichen, um den Stoff dem Zuschauer nahe zu bringen. Dahinter steigen ein paar Stufen leicht ins Dunkle an. Kotey muss während der beiden Begegnungen auf seinem Stuhl verharren, während Diane Foley sich bewegen darf. Sie zeichnet sich durch schlichte Eleganz aus, sie trägt ein schwarzes Kleid, eine bald abgelegte helle Jacke und einen blauen Paisley-Schal; Alexanda Kotey einen olivfarbenen Sträflingsanzug und Fußfesseln. Warum ihre Auftritte mal von hinten, mal aus dem Zuschauerraum erfolgen, bleibt rätselhaft. James Foleys Auftritte finden über einen Steg statt, der aus dem Schnürboden herabgelassen wird. Sie erfolgen in zeitlich umgekehrter Reihenfolge – vom Gefangenen im orangenen Guantánamo-Sträflingsanzug (wie es im besagten Video zu sehen ist) bis zum aktiven Journalisten mit Kamera und Pali-Tuch, der Kufija. Der Wärter verharrt im Hintergrund auf einem Stuhl und kommt für seine Auftritte an die Rampe. Sein Kostüm ist als einzige realistische Requisite ein originaler, aus den USA importierter Wärteranzug. Frau Kotey ist mit schlichtem geblümtem Kleid, dunkelblauer Strickjacke und strähnigen Haaren eher am unteren Ende der sozialen Skala angesiedelt. Der Chor in überwiegend beiger Straßenkleidung, die Frauen teils mit schwarzem Kopftuch als Muslima erkennbar, singt erst aus dem Off, bevor er auf die Bühne kommt. Dreimal werden bühnenbreit kurze Videos eingeblendet: Ein dunstiger Sonnenuntergang, ein arabischer Fließtext (korrekterweise von links nach rechts) sowie eine Drohnenaufnahme zerstörter Häuser (könnte aus Gaza stammen). So schlicht und dennoch absolut treffend darf eine Inszenierung sein, wenn der Fokus auf der Musik und dem gesungenen Text liegt. Gesungen wird auf hohem Niveau. Katharine Goeldner verkörpert die im Mittelpunkt stehende Diane Foley mit allen ihren Zweifeln, Anklagen, ihrer Trauer und ihrer Vergebung in idealer Weise. Mit in allen Registern fest sitzender Stimme, reicher Dynamik und klarer Diktion identifiziert sie sich mit der American Mother überzeugend. Die anderen Solisten sind Timothy Connor als Alexanda Kotey, Roman Payer als James Foley sowie die hauseigenen Dong-Won Seo als Prison Guard und Angela Davis als Mrs. Kotey. Der ebenfalls scheidende Hagener Generalmusikdirektor Joseph Trafton leitet sein Philharmonisches Orchester gewohnt engagiert. Das Orchester darf noch einmal seine Qualitäten wie Transparenz, Klangvielfalt und harmonischem Zusammenspiel innerhalb einzelner Instrumentengruppen präsentieren. Das Hagener Publikum, in dem auch der künftige GMD Sebastian Lang-Lessing saß und nicht mit Applaus sparte, war einhellig begeistert sowohl von dem gut 80-minütigem, pausenlosem Stück als auch von der Umsetzung. Es erlebte eine weniger politische als sehr menschliche Oper, die die schillersche Forderung an das Theater nach einer moralischen Anstalt erfüllt. Zwar mögen Zweifel an der Wirkung der hehren Botschaft nach gegenseitigem Verstehen, nach Verzeihen und Heilung angesichts der täglichen Schreckensnachrichten aus den weltweiten Kriegsgebieten aufkommen, aber es lohnt sich durchaus, sich zu engagieren. Denn der Besuch Diane Foleys bei Alexanda Kotey und das daraus resultierende Buch hatte Einfluss auf die Politik: Foley gründete die NGO „Jim Foley Foundation“. Diese setzt sich für die Befreiung amerikanischer Geiseln im Ausland ein. Noch unter Präsident Obamas Regierung erwirkte sie einen neuen Umgang bei Geiselnahmen. Heute sind Verhandlungen und Hilfe bei Lösegeldzahlungen kein Tabu mehr. Nach der Vorstellung am 18. Juni gibt es die Möglichkeit, die echte Diane Foley zusammen mit Colum McCann und Charlotte Bray im Publikumsgespräch zu erleben!

Bernhard Stoelzel, 3. Juni 2025


American Mother
Charlotte Bray

Theater Hagen

31. Mai 2025 (Premiere der Uraufführung)

Inszenierung: Travis Preston
Musikalische Leitung: Josef Trafton
Philharmonisches Orchester Hagen

Weitere Aufführungen: 9. Juni, 14. Juni, 18. Juni, 27. Juni