Unter dem Titel URSPRÜNGE ist die aktuelle Saison des Musikkollegiums Winterthur programmiert. Äußerer Anlass für diesen programmatischen Schwerpunkt mag das 150jährige Bestehen des Musikkollegiums als professionelles Orchester sein, doch die Ursprünge reichen bis 1629 zurück. Und so fasst man den Begriff URSPRÜNGE auch viel weiter und verwendet bewusst den Plural. Es geht natürlich um das Orchester und dessen Leitbild, aber auch um die Ursprünge der Musik und der Quelle des Lebens und des menschlichen Bewusstseins im Allgemeinen.
Das gestrige Saisoneröffnungskonzert enthielt vieles von dem, was im Leitbild des Orchesters stipuliert wird: Lust und Freude, Qualität, Mut, Erlebnisse schaffen, lokal verwurzelt, international vernetzt.
Beginnen wir beim zentralen Programmpunkt des Konzerts, dem Auftragswerk des Musikkollegiums Winterthur zusammen mit dem Konzerthaus Dortmund, Rachel Portmans Liedzyklus ANOTHER EVE. Das Musikkollgium Winterthur hat ja eine lange und erfolgreiche Tradition von Uraufführungen oder Schweizer Erstaufführungen, man denke nur daran, wer sich alles im Haus des einstigen Förderers Werner Reinhart die Klinke in die Hand gab: Komponisten wie Igor Stravinsky, Richard Strauss, Bela Bartók, Alban Berg, Anton Webern und Arnold Schönberg. Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler, Hermann Scherchen und Joseph Keilberth waren dem Orchester eng verbunden, Chefdirigenten wie Franz Welser-Möst, Heinrich Schiff, Thomas Zehetmair und aktuell Roberto González-Monjas prägten und prägen die Orchesterkultur – und luden und laden immer wieder Top-Shots aus der Klassikszene nach Winterthur ein. So auch gestern Abend, wo die gefeierte Mezzosopranistin Joyce DiDonato den für sie komponierten Liedzyklus Portmans ANOTHER EVE dem begeisterten Publikum präsentierte. Rachel Portman hatte das Gedicht (in sechs Abschnitten) von Gene Scheer THE FIRST MORNING OF THE WORLD auf Wunsch DiDonatos vertont. Der Text handelt von der Unschuld des Lebens in Eden, von einer Sprache ohne Fragezeichen, einer Welt, die nach der Vertreibung aus dem Paradies verloren ging und zu der wir uns alle zurücksehnen sollten. Also wunderbar passend zum Saison-Thema URSPRÜNGE. Portman komponierte eine wunderbar zarte, berührende, filigrane und leicht zugängliche Musik, beginnend mit dem unschuldigen Vogelgesang der Flöte. Es sind schlichte Melodien, die uns glücklich machen, weich, träumerisch, und Joyce DiDonato vermochte die Schattierungen dieser Lieder mit der bewegenden Gestaltungskraft ihres golden schimmernden Mezzosoprans direkt in unsere Herzen zu tragen. Dynamisch wunderbar strukturiert aufgebaute Steigerungen und Piani vom Allerfeinsten prägten den Gesang. Weiche Bögen, plastisch geformte Linien, aber auch eruptive Empörung, Zeichnung einer besseren Welt in traumhaft schön intonierten Phrasen – all dies gelang Joyce DiDonato mit einer berührenden Interpretation dieser dystopisch-poetischen Texte. Am Ende, als sie „You are the bud on the End of the branch. The beginning of a leaf. The beginning of a life. The beginning of a story.“ mit solch expressiver Schönheit sang, hätte man weinen mögen. Und genau zu dieser Stimmung passte ihre Zugabe: „Morgen“ von Richard Strauss. Die Musik gibt uns immer wieder Hoffnung auf eine bessere Welt, so auch der Liedtext von John Henry Mackay in der Vertonung Strauss‘ „Und morgen wird die Sonne wieder scheinen … und auf uns sinkt des Glückes stummes Schweigen“. Das Spiel der Solovioline des Konzertmeisters Bogdan Božović und die wunderbar verhaltene Interpretation Joyce DiDonatos verschmolzen in tief empfundener Innigkeit mit dem subtilen, fein intonierten Gesamtklang des Musikkollegiums Winterthur unter der Leitung von Roberto González-Monjas in der Wiedergabe von ANOTHER EVE und Richard Strauss‘ Lied MORGEN in der 187 entstandenen Orchesterfassung. Die anwesende Komponistin Rachel Portman wurde in den begeisterten Applaus des Publikums aufs Herzlichste (und überaus verdient!!!) miteingeschlossen.
Eher subjektive Ursprünge wurden in den beiden Eckwerken des Abends, Korngolds THEMA UND VARIATIONEN und STRAUSSIANA, erkundet. Korngold hatte nach dem erzwungenen Exil in den USA versucht, in Europa wieder Fuss zu fassen, als „klassischer“ Komponist an seine stupenden Erfolge in den 20er Jahren anzuknüpfen. Aber es gelang nicht, die Welt hatte sich verändert, der große Sound der Spätromantik war in der elitärer gewordenen Klassikszene nicht mehr gefragt. So zog er frustriert in die USA zurück und blickte mit seinen letzten Kompositionen irgendwie melancholisch auf sein Leben zurück. In THEMA UND VARIATIONEN steht ein wehmütiges, simples Thema, das ein wenig an Dvořák erinnert, als Ausgangspunkt für sieben Variationen äußerst versiert instrumentierter Virtuosität. Die Musik erklingt in der Wiedergabe durch das Musikkollegium Winterthur und Roberto González-Monjas feurig bewegt, pointiert, dann wieder elegisch oder mit beschwingter Fröhlichkeit, im Lento verträumt und im abschließenden Marsch kommt das Thema mit majestätischer Imposanz daher. Es ist wunderbare Musik, leider etwas aus der Zeit gefallen, wie auch die das Konzert beschließende STRAUSSIANA, diese Hommage an den Walzerkönig mit bestechend instrumentierten, effektvollen Bearbeitungen von unbekannteren Ausschnitten aus Strauss-Operetten. Die Wiedergabe allerdings war „Neujahrskonzert“-würdig, und das musikalische Feuerwerk, das Roberto González-Monjas und sein Orchester zu entfachen verstanden, übertrug sich flugs aufs in begeisterten Jubel ausbrechende Publikum.
Noch vor der STRAUSSIANA erklang Poulencs SINFONIETTA. Dieses viersätzige Werk ist voller Charme, Witz und ganz ähnlich strukturiert mit der Hommage an die klassischen Sinfonien Haydns, wie Prokofievs SYMPHONY CLASSIQUE welche vom Musikkollegium anlässlich des Gratiskonzerts vom 30. August zu hören gewesen war. (Ich habe darüber berichtet.) Auch hier war die Verve, mit welcher González-Monjas ans Werk ging, deutlich hör- und sichtbar. Poulencs musikalische Sprache findet sofort Eingang ins Ohr, gekonnt mischt er variantenreich Elemente und Einflüsse der Vergangenheit mit jazzigen Anklängen. Immer wieder bricht Humor durch. Wiegender Duktus und wunderbar gespielte Soli der Klarinette verbreiten eine positive Grundstimmung. Nach rasant gespielten Streicherpassagen und „Blaskapellen“ – Musik werden kurz Dissonanzen gestreift, denen Poulenc aber mit vehementen Schlussakkorden sofort Einhalt gebietet. Klasse!

Einmal mehr war dies ein Konzert des Musikkollegiums Winterthur, das in keiner Weise beliebig zusammengestellt war, sondern mit Bedacht gewählte Werke in einen grösseren Zusammenhang stellte. Wunderbar!
Kaspar Sannemann 12. September 2025
Joyce Didonato | Roberto Gonzales-Monjas
Winterthur, Stadthaus
10. November 2025
Erich Wolfgang Korngold: THEMA UND VARIATIONEN FÜR ORCHESTER
Rachel Portman: ANOTHER EV
Francis Poulenc: Sinfonietta
Erich Wolfgang Korngold: STRAUSSIANA
Dirigat: Roberto González-Monjas
Musikkollegiums Winterthur