Lieber Opernfreund-Freund,
im Winterhalbjahr bespielt die Fondazione Arena di Verona das 1945 zerstörte und nach langer Renovierung 1975 wiedereröffnete Teatro Filarmonico, das ein wenig versteckt unweit der berühmten Arena an der Piazza Bra liegt. Dort ist seit gestern Puccinis Erstlingsoper Le Villi in einer schon im vergangenen Jahr am Teatro Regio di Torino gezeigten Inszenierung zu erleben. Die Premiere im voll besetzten Haus gerät dabei zum Triumph für alle Beteiligten.

Das junge Paar Anna und Roberto lebt in einem Dorf im Schwarzwald und steht kurz vor der Hochzeit, als der Bräutigam verreisen muss, um finanzielle Angelegenheiten zu regeln. Im fernen Mainz verfällt er den sündigen Versuchungen (das passiert heutzutage wahrscheinlich nur noch zur Fastnachtszeit) und vergisst darüber seine Braut. Die stirbt an gebrochenem Herzen und nimmt als Geist zusammen mit den Geistern anderer entehrter junger Frauen Rache an Roberto, indem die Willis – so heißen die Gestalten in der Erzählung – ihn zu Tode tanzen. Die Regie in Verona nun deutet an, dass Anna bei Robertos Abreise schwanger ist – und so ist offensichtlich, dass auch der Tod an gebrochenem Herzen vielleicht nicht ganz von allein eingetreten ist, sondern Anna da selbst nachgeholfen haben mag.

Pier Francesco Maestrini lässt seine Interpretation als traditionelle Regiearbeit beginnen, weist mit den hinreißenden, der Mode des Fin de Siècle entlehnten Kostümen von Luca Dall’Alpi auf die Entstehungszeit des Werks. Puccini hatte mit Le Villi 1883 am ersten Kompositionswettbewerb der Casa Sanzogno teilgenommen (aus dem zweiten im Jahr darauf ging der operale Welthit Cavalleria rusticana als Sieger hervor), war aber nicht einmal unter die besten fünf gekommen. Im Jahr darauf wurde die Oper dank der finanziellen Unterstützung und der Fürsprache einiger einflussreicher Mailänder Intellektueller uraufgeführt und legte den Grundstein zu den weiteren Erfolgen des Meisters aus dem toskanischen Lucca. Puccini war also gerade 25 Jahre alt und ein auch kompositorisch noch ungestümer Haudrauf. Zwar sind in den lieblichen Melodienbögen des ersten Aktes schon die wogenden Schwünge zu erkennen, welche die späteren Bühnenwerke Puccinis ausmachen; gerade aber der zweite Teil – durch eine Ballettszene, die das Mainzer Sündenbabel visualisiert, getrennt – ist so wuchtig angelegt, wie wir es erst in viel späteren Werken wie La Fanciulla del West, dem Tabarro oder der Turandot wieder hören werden.

Diesem musikalischen Stilbruch zeigt sich auch die Regie verpflichtet. Maestrini spielt in der zweiten Hälfte mit vielsagenden Videoeinspielungen, welche Friedhöfe, Nebelschwaden oder einfach den düsteren Schwarzwald zeigen, und erzeugt so eine mystische Atmosphäre, die das gekonnte Licht von Bruno Ciulli noch unterstützt. Dreht sich im ersten Akt noch ein liebliches Karussell auf der von Juan Guillermo Nova gestalteten Bühne, herrscht im zweiten nur noch szenische Ödnis. Anna, zur geisterhaften Nymphe geworden, fällt zusammen mit ihren Gespielinnen über Roberto her und reißt dem Untreuen das Herz heraus.

Auch Alessandro Cadario scheint zusammen mit den Musikerinnen und Musikern des Orchestra di Fondazione Arena di Verona gleich zwei Werke zu präsentieren: Legt er die Interpretation des ersten Teils noch so geschmeidig und weich an, dass sich die Musik wie ein Seidentuch um die Erzählung schmiegt, gelingt ihm ab dem Ballett zur Choreografie von Michele Cosentino ein wildes, fast schroffes Dirigat, das die Ecken und Kanten der Komposition genauso präzise herausarbeitet wie die einzelnen Instrumentengruppen, und in einem furiosen Tanz endet.
Gëzim Myshketa hatte Annas Vater Guglielmo schon in Turin verkörpert und präsentiert die Figur mit sonorem Bariton und einer gekonnten Mischung aus Gefühl und Kampfeswillen, wenn er sich nach Rache sehnt. Sara Cortolezzis bringt für die Anna einen klangschönen Sopran mit vielen Farben mit, der sich durch eine warme Mittellage und feurige Höhen auszeichnet. Star des Nachmittags ist neben dem exzellenten, von Roberto Gabbiani betreuten Chor jedoch sicherlich der junge Galeano Salas als Roberto: Mit strahlenden Höhen krönt er seine versierte und seelenvolle Interpretation, singt voller Sentiment und tenoraler Kraft zugleich.
Ihr
Jochen Rüth
27. Oktober 2025
Le Villi
Oper von Giacomo Puccini
Teatro Filarmonico di Verona
Premiere: 26. Oktober 2025
Regie: Pier Francesco Maestrini
Musikalische Leitung: Alessando Cadario
Orchestra di Fondazione Arena di Verona
Weitere Vorstellungen: 29. und 31. Oktober sowie 2 November 2025