Erst 2024 wurde der Tagungsband eines interessanten Symposions veröffentlicht: Zwischen Olympia und Freischütz. Oper in Berlin im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Schon 2015 veröffentlichte Anne Henrike Wasmuth mit Musikgeschichte schreiben. Ein Beitrag zur Spontini-Rezeption im Kontext der kulturellen Topographie Berlins 1820-1841 eine umfangreiche Rehabilitation des übel angefeindeten Komponisten, Dirigenten und Berliner Generalmusikdirektors. Ein Jahr später kam ein Buch über Spontini und die Oper im Zeitalter Napoleons heraus, in dem man sich ganz dem italienischen, in Paris zu Ruhm gekommenen Gaspare Spontini widmete. Schon 2015 und 2018 aber fanden zwei Tagungen in Jesi / Maiolati und Mainz statt, deren Beiträge 2023 gedruckt werden konnten. Man hat sie unter dem Titel Gaspare Spontini. The Berlin Years zusammengefasst, um einem Komponisten wissenschaftliche Reverenz zu zollen, dessen Werke heute zu den größten Raritäten auf den Opernbühnen gehören, obwohl er einmal so etwas wie ein Superstar war. Auf den Seiten des Opernfreundes kann man aus den letzten sieben Jahren, also seit 2018, nicht mehr als fünf Rezensionen zu vier Spontini-Aufführungen entdecken – dies ist nichts im Vergleich zu den Zahlen, die Spontini-Opern zumal in den Berliner Jahren des großen Komponisten erfuhren.

Ob ein in Italien edierter Tagungsband mit deutschen, italienischen und englischsprachigen Beiträgen wohl dazu beitragen kann, die Werke des Mannes wieder ins Gedächtnis zu rufen, damit die Dramaturgen, Intendanten und Dirigenten der Opernhäuser der Welt sich verstärkt den chef d’oeuvres widmen werden? Es bleibt eine Hoffnung, auch wenn Untersuchungen über Fassungsfragen oder Pressescharmützel vielleicht eher den sogenannten Spezialisten zu interessieren vermögen. Dabei führen die neun Beiträge tief hinein in die Praxis des damaligen Opernlebens und die nach wie vor spannenden Aktualitäten und Aktivitäten der Opernszene wie ihrer Kritiker und Anbeter. Moderne, auch Opern-Moderne, war schließlich immer: „Die Geschichte der französischen Oper des Empire“, schreibt Matthias Brzoska in seinem einleitenden Aufsatz, „ist von dramaturgischen und musikalischen Innovationen geprägt, stellt aber gleichwohl eine Übergangsepoche zwischen der Tragédie lyrique des 18. Jahrhunderts und der Grand Opéra der späten 1820er- und 1830er-jahre dar“. Zwar gibt der Autor zu, dass sich Spontini selbst des Widerspruchs zwischen Innovation und Traditionsverhaftung bewusst war, was auch die vielen Fassungen seiner großen Opern erklären würde – man könnte allerdings mit anderen Autoren des Bandes mutmaßen, dass differente Fassungen eines Werks nicht allein auf Unsicherheiten in der dramaturgischen Konzeption zurückgingen. Als Spontini seinen Fernand Cortez für Paris einrichtete, ging er aus inhaltlichen, ja religiösen Gründen auf eine Version zurück, die für Berlin längst überwunden war (um es mit einem leicht hegelschen Begriff auszudrücken). Welche Bedeutung die einzelnen Berliner Stücke hatten und welchen dramaturgischen Gesetzmäßigkeiten und Normen sie unterworfen waren: dies wird von Brzoska im seinerzeit diskutierten Widerspiel von „verité“ und „bienséance“, also (realistischem) Wahrheitsanspruch und „Anstand“, also Idealismus, erläutert; ein Katastrophenfinale wie das der Huguenots stand noch nicht zur Debatte, auch wenn Grenzen des „Anstands“ bisweilen überschritten wurden. Was genau auf die Bühne kam, hing freilich auch von den jeweiligen politischen Intentionen ab, die neue Fassungen geradezu erzwangen. Klaus Pietschmann, Kenner des Fernand Cortez und seiner vier Fassungen, hat es 2024 im Berliner Tagungsband erläutert; im italienischen Tagungsband widmet er sich wieder dem Werk und seinen Fassungen 3 und 4, um durchaus spektakuläre Neufunde von Quellenmaterial zu vermelden. So konnte 2019 erstmals die Urfassung des Cortez in einer modernen Wiederaufführung in Florenz auf die Bühne kamen – und so wurde erstmals seit den Aufführungen im 19. Jahrhundert 2018 in Erfurt die verloren geglaubte, definitive Ouvertüre zur Agnes von Hohenstaufen (ein das Rheingold-Vorspiel anmahnendes Prachtstück…) gespielt, weil erst kurz zuvor in Kopenhagen die Noten entdeckt wurden: nicht zufällig, sondern weil die Musikarchäologen systematisch die Archive jener Orte, an denen Spontini tätig war oder mit denen er Kontakt hatte, durchsuchten oder anfragten. Im Anhang zu seinem Cortez-Aufsatz publiziert Pietschmann denn auch eine Übersicht über die verschiedenen Bearbeitungsstufen des Werks, die uns synoptisch darüber unterrichtet, wie die konkrete Opernarbeit des Berliner GMD aussah: Er komponierte nicht allein, zumindest für Agnes von Hohenstaufen, umfangreiche neue Passagen, sondern benutzte die einzelnen Teile der mexikanischen Oper quasi als Baukasten, in dem die Einzelteile verschoben werden konnten.
Wie in Berlin gesungen wurde, erfährt man ansatzweise aus Daniel Brandenburgs Beitrag Spontini, il canto e i cantanti del suo tempo. Er kommt zum Schluss, dass Spontini in Paris die ersten Schritte zur Modernisierung der traditionellen italienischen Gesangsmethode unternahm, doch in Berlin, unterstützt von Antonio Benellis Gesangslehre, mehr Vertrauen in die Tradition als in die Innovation hatte. Im Übrigen war Spontini auch in dem Sinne General, als er jeglichen Aspekt einer effektvollen Opernaufführung kontrollierte, was ihm, als selbstbewusstem Autor, am Berliner Haus nicht unbedingt mehr Freunde im technischen Personal schaffte. Seine partielle Unbeliebtheit bei Teilen der Presse ging auch darauf zurück, dass man ihm die Ausdünnung des Repertoires an der Hofoper vorwarf. Jasmin Seib relativiert die meisten Vorwürfe und ordnet sie in den Kontext der allgemeinen Repertoire-Entwicklung der Epoche, auch der geringen Anzahl deutscher Opern und der Schwierigkeit, Spontinis Große Opern auf die Bühne zu bringen, ein; am Beispiel von Spohrs Jessonda und Webers Euryanthe kann sie zeigen, mit welchen Problemen, königlichen Anweisungen und künstlerischen Einschränkungen es ein Komponist oder ein Intendant zu tun hatte, bevor eine Novität das Licht der Berliner Bühnenwelt erblicken konnte. Spontini zum Sündenbock zu erklären, war seinerzeit die einfachste Art, dem Unmut über den Spielplan Ausdruck zu geben. Zu Spontinis Gegnern gehörten übrigens nicht allein die Nationalen unter den Opernfreunden und die gehässigen Presseleute, sondern auch manch Kollege. Meyerbeer empfand ihn ausdrücklich als „Todfeind“ – so wie später Wagner Meyerbeer, aber das ist eine andere Geschichte.
Scheinbar auf ein Nebengleis führt die Beziehung, die zwischen Spontini und seiner Frau auf der einen Seite, Constanze Mozart auf der anderen Seite bestand, die sich nicht allein mit knapp 30 Briefen nachweisen lässt. Anja Morgenstern kann die tiefe Zuneigung des Italieners zu Mozart nachweisen, indem sie den Einsatz des Berliner GMDs für die Drucklegung der Mozart-Biographie von Constanze Mozarts zweitem Mann, dem dänischen Diplomaten Nissen, eindrücklich belegt. Spontini stand damals, nach den Adligen, die vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. Angeführt wurden, an der Spitze der Liste der bürgerlichen Subskribenten; außerdem warb er noch viele andere Subskribenten, allen voran die Mitglieder der Berliner Hofkapelle. Auch in diesem Licht erscheint Spontini nicht als deutschfeindlicher „Franzose“, sondern als musikliebender Macher. Auf ein anderes Nebengleis führt scheinbar die Aufführungsgeschichte der (zwei Fassungen der) Festhymne, die von Alessandro Lattanzi erzählt wird, womit auch die damals beliebte Kunstart der Lebenden Bilder in den Fokus gerät: eine Bühnenkunst, die völlig verschollen ist, aber noch tief in die Geschichte der Oper hineinwirkte. Interessant bleibt die Nähe des nicht allein preußischen Königs- zum russischen Zarenhof, mit den vielfältigen familiären und kulturellen Beziehungen bestanden. Während Klaus Pietschmann sich in Sachen Philologie dem Berliner Cortez widmet und aufgrund der genannten Neufunde zu einer genauen Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte dieser mit spezifischen Akzenten für Berlin ausgearbeiteten Fassungen gelangt, widmen sich Fabian Kolb und Arne Langer der Fest Oper Agnes von Hohenstaufen, um – das macht Langer – die aus den Quellen rekonstruierbare Entstehung und neuere Aufführungen, besonders aber die Geschichte der neuentdeckten Ouvertüre zu erzählen, die an Stelle einer provisorischen, viel kritisierten Ouvertüre getreten ist, wobei auch in diesem Fall gegensätzliche publizistische Meinungen (Ludwig Rellstab gegen Heinrich Dorn) zutage traten. Gerade an der Agnes von Hohenstaufen entfachte sich ein Pressekrieg. Umso verdienstvoller, dass Kolb die verschiedensten „Wahrnehmungsperspektiven und Popularitätsfaktoren der Oper um 1830“ am Beispiel der Spontini-Oper zu erläutern. Das meint: die Bedeutung der sündhaft teuren, von keinem Geringeren als Karl Friedrich Schinkel entworfenen Ausstattung, die zeitgeschichtliche und propagandistische Bedeutung des Sujets, die Aufmerksamkeit, die die Sängerinnen und Sänger erfuhren, der um Spontini entstandene Starkult, die „Überwältigungs-Ästhetik“ einer Opern-Show und nicht zuletzt die Verwertungen einzelner Nummern im öffentlichen und privaten Konzert-Leben wie in der kommerziellen Verlagsproduktion. Unterm Strich war, und auch dies ist ein schönes Ergebnis des Bandes, die polemische Kritik, die Spontini von Seiten einer missgünstigen Presse erfuhr, also nur ein Teil eines wesentlich umfangreicheren Wirkungskreises. Dass Spontini 1847 – darauf macht Arnold Jacobshagen in seinem, viele unveröffentlichte Dokumente zitierenden Beitrag aufmerksam – wieder nach Berlin kommen wollte, dürfte also auch darauf zurückzuführen sein, dass er nicht allein die Schmach, die er zuvor erlitten hatte, vergessen machen wollte. Er dürfte auch noch kurz vor seinem Tod viele „Fans“ an der Spree gehabt haben, die ihn jubelnd empfangen hätten, nachdem er – das war freilich eine Notlösung – beim Niederrheinischen Musikfestival als schon körperlich geschwächter Dirigent aufgetreten war.
Schade, dass der facettenreiche Band vermutlich nur von Spezialisten gelesen wird. Spontini hätte es verdient, dass sich verantwortliche Dramaturgen, Dirigenten und Intendanten, ausgerüstet mit den Informationen dieses Bands, wieder einmal daran machen, eines seiner Berliner Meisterwerke szenisch zu realisieren: zum Beispiel in Berlin. Attraktive Stücke gibt es ja genug…
PS: Ich empfehle jedem Opernfreund mit Nachdruck die Einspielung der schönen Agnes von Hohenstaufen, Erfurt 2018.
Frank Piontek, 12. November 2025
Gaspare Spontini – The Berlin Years
Hrg. von Fabian Kolb und Alessandro Lattanzi
Libreria Musicale Italiana, 2023
296 Seiten, 28 Abbildungen