Buchkritik: „Die Nacht der Amazonen“, Doris Fuchsberger

In der politisch überaus korrekten Geschichte der Bayerischen Staatsoper vor und nach 1945, die 2017 unter dem Titel Wie man wird, was man ist 2017 herauskam, kommt sie seltsamerweise nicht vor, obwohl die Autoren mit ihr noch zusätzlich hätten „beweisen“ können, dass damals alles, aber auch wirklich alles schlecht war an und in der Staatsoper, getreu dem Motto: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Dabei haben sich immer wieder bekannte und beliebte Künstler der Münchner Oper an der Nacht der Amazonen beteiligt, die genau viermal, in den Sommern der Jahre 1936 bis 1939, an der Isar über die Bühne ging.

Die Historikerin Doris Fuchsberger war die erste, die sich intensiv in das fast vergessene Kapitel der Münchner Festkultur hineinkniete und einen Band vorlegte, der nicht mit Materialien, Fotos und Texten, nicht zuletzt mit Zeitzeugenaussagen geizt. Fuhr Hitler auch lieber zu den zeitgleich veranstalteten Bayreuther Festspielen, weil ihn das Spektakel mit den nackten Frauen und Männern, die als Amazonen und lebende Statuen im Park von Schloss Nymphenburg aufzutreten hatten, vermutlich genierte, so verbanden sich in der Amazonennacht zugleich ideologische, wirtschaftliche wie künstlerische Motive – denn genau betrachtet, erwuchs die show aus einer langen Tradition. Höfische Barockdivertissements, Hofreitschule, Revue (mit Musik- und Gesangseinlagen), das waren die Elemente einer Festreihe, die als Höhepunkt der „Rennwoche Riem“ sowohl den München- und Oberbayern-Tourismus ankurbeln als auch die Präpotenz der Machthaber ins rechte Licht setzen sollte. Letzteres darf man übrigens wörtlich verstehen, denn die Licht-Installationen, die, profitierend vom gleichzeitigen Rüstungsaufbau, von Jahr zu Jahr aufwendiger und teurer wurden, unterstützten eine stundenlange Suite von Kampfspielen, Aufzügen und Szenen, die von einem Feuerwerk gekrönt wurden. Mittendrin: Hans Hermann Nissen, Erna Sack, Julius Patzak, also erste Namen der Staatsoper, die die „Frivolitäten“ mit ihren Einlagen gleichsam veredelten. Die shows boten Vieles: nackte Körper und „klassische“ Musik (Nissen durfte, warum auch immer, den Pagliacci-Prolog singen), Ballette (u.a. Mozarts Les petit riens), „schneidige“ (wie man damals sagte) militärische Auftritte, pseudo-barocke Szenen und Rokoko-Bilder. Man setzte bei allem auf absolute Popularität, die höher wog als eine völlig konsistente Dramaturgie – letztere aber lief darauf hinaus, den „schönen“ und „starken“ deutschen Menschen der Gegenwart zum Maß aller Dinge zu erklären. Um die dekadenten absolutistischen Fürsten als solche, und als zurecht überwundene, zu zeigen, mussten allerdings alle Zaubermittel historischer Ausstattungen angewendet werden – abgesehen davon, dass man die Bauherren des Schlosses, an dem die Nacht gerade stattfand, schon aus lokalpatriotischen Gründen nicht allzu sehr abwerten konnte.

Möglicherweise wäre die Nacht der Amazonen, die – die Autorin kann das sehr schön demonstrieren – die jahrzehntealte Geschichte des Münchner Faschings und vergleichbarer Ball-, Abend- und Nachtveranstaltungen als Höhepunkt des „Münchner Festsommers“ auf äußerst pompöse Weise fortsetzte, nicht mehr als ein mehr oder weniger geschmackvolles „event“ gewesen, wären die Veranstalter der Festreihe nicht skrupellose Nutznießer und Täter des Regimes gewesen, unter denen sich besonders Christian Weber, eine der übelsten Münchner Nazi-Figuren, hervortat, dem es auf zweierlei ankam: auf nackte Frauen und Pferdedemonstrationen. Mit im Spiel waren auch die Künstler; die Güntherschule, gegründet von Dorothee Günther und Carl Orff, und die aus dem Ausdruckstanz der 20er Jahre kommende Choreographin Hertha Meisenbach zeigen, dass die Moderne im Fall des NS-Regimes nicht vor Gebrauch schützte. Doris Fuchsberger hat im Anhang des Buchs nicht allein die Politprominenz, sondern auch die Künstler in kleinen biographischen Kapiteln charakterisiert, denen die Nacht der Amazonen ihre Form verdankte. Nicht zu vergessen: bis hinunter zum Statisten dienten viele Beteiligte als Bluthunde des Regimes: als Wachleute im nahen KZ Dachau, später in Polen, wo sich der für die Pferde zuständige Hermann Fegelein als Massenmörder betätigte, während Albert Reich, der künstlerische Leiter der Feste, SA-Mitglied gewesen war und 1930 eine NSDAP-Ortsgruppe gegründet hatte. Nur Paul Wolz, Inhaber des Deutschen Theaters, der als Theaterfanatiker mitmachte, war nie ein vollkommen anerkannter Teil des Systems. Dafür waren sene verwandtschaftlichen Beziehungen für die Nazis einfach zu unsicher.

Fuchsberger hat mit ihrem Buch eine reich bebilderte, von historischen Daten flankierte Theater-Kulturgeschichte vorgelegt, die nicht allein ein fast unbekanntes Ereignis rekonstruiert. Sie konnte zeigen, wie alles mit fast allem zusammengehört: die Münchner Kunstgeschichte (mit Franz Stucks Amazonenskulptur an der Spitze), die Münchner Vergnügungskultur, Hitlers Forcierung Münchens als „Hauptstadt der deutschen Kultur“, die damit zusammenhängenden privaten und öffentlichen Interessen eines Christian Weber, der München zur Hauptstadt des Pferdesports machen wollte, Fremdenverkehrswerbung, Politpropaganda, ästhetische Machtdemonstrationen und Ideen zur Förderung eines „reinen“ deutschen Sexuallebens im Zeitalter der sog. Arterhaltung – nicht zuletzt die Arbeit von Staatsopernsängern, die schon damals außerhalb ihres Hauses attraktive Auftrittsmöglichkeiten suchten. Es scheint nicht leicht, der Nacht der Amazonen völlig gerecht zu werden, auch wenn Doris Fuchsberger sie im Kontext zur Münchner Kultur-, der Sport- und der NS-Geschichte sehr facettenreich beschrieben und gedeutet hat. Am Ende muss man sie wohl als das lesen, als was sie intendiert war: als touristisch ausschlachtbares gigantisches Propaganda-Fest eines sportlich inspirierten NS-Variétes, das seine Unschuld spätestens in jenem Augenblick verloren hatte, als die ersten SS-Reiter in das Nymphenburger Parterre einritten.

Und wenig später genoss man Leoncavallo.

Frank Piontek 18. Mai 2023


Doris Fuchsberger

Nacht der Amazonen

Eine Münchner Festreihe zwischen NS-Propaganda und Tourismusattraktion.

Allitera Verlag, 242 Seiten, 130 Fotos.