Buchkritik: „Vieles sah ich, Seltsames hört’ ich“. Aus meinem Musikleben – Cord Garben

Nicht allein Schauspieler, auch Musiker tendieren dazu, in ihren zum Druck beförderten Lebenserinnerungen eigene Verdienste zu betonen, einen mehr oder weniger geradlinigen Lebensweg zu beschreiben und gelind eitle Ansichten der Öffentlichkeit zu präsentieren. Nur selten gelingt es ihnen, in den Kern der Sache, also ihrer Profession, hineinzuleuchten. Cord Garben ist es nun so kurzweilig wie beeindruckend, faktenreich wie reflektiert gelungen. Hat man die gut 400 Fließtext-Seiten erst einmal in die Hand genommen, legt man das Buch erst aus der Hand, wenn man den letzten Buchstaben erreicht hat.

Das macht: die Doppelbegabung des Autors. Bei Garben dürfte es sich um den möglicherweise einzigartigen Fall eines Liedpianisten oder – begleiters (oder wie die Profession sonst noch heißt) handeln, der sein Brot zugleich als Aufnahmeleiter bei der Deutschen Grammophon verdiente. Es war ein Glück, weil er hier mit den Besten der Besten zusammenarbeiten konnte und in der technischen Abteilung sein Eidechsengehör bis ins Letzte trainieren konnte – und zugleich gelegentlich kurios, weil die Großen der Großen, allen voran der Pianist Arturo Benedetti Michelangeli, oft Exzentriker vor dem Herren waren. Dass sich in einem langen Musiker- und Aufnahmeleiterleben viele Geschichten ansammeln, ist also Eines, dass diese Geschichten so elegant wie hintergründig erzählt werden, ein Anderes.

Die Seltsamkeiten beginnen in Garbens Jugendzeit und enden kurz vor 2025. Garben beschreibt die Begegnungen mit Svjatoslav Richter (der den langsamen Satz von Schuberts B-Dur-Sonate unbegreiflich verzerrte), Karajan (der sich nicht für die Klärung von Fehlern interessierte), Kurt Moll (eine besonders beglückende, langjährige Lied-Partnerschaft), mit Dietrich Fischer-Dieskau, der Witwe von Alexander Zemlinsky, mit Maurizio Pollini (der eigentümliche Aufnahmegewohnheiten hatte), mit Zubin Mehta und Carlos Kleiber (dessen Dresdner Tristan-Aufnahme aus unendlich vielen Schnipseln zusammengefügt wurde, bis der musikalische Fluss versickerte), mit Pavarotti, Domingo und Jessye Norman (die falsche Stimme für die Isolde) undundund – und, besonders ausgiebig und geradezu lustvoll in den Erinnerungen kramend, mit dem bauernhaft auftretenden „MR“, also Mstislaw Rostropowitsch. Bisweilen hat man den Eindruck, dass viele bekannte (und unbekannte) Musiker insgeheim unmusikalisch waren und sind. Garben bestätigt es einem mit zahlreichen Anekdoten, denen er die Interpretation gleich nachliefert.

Dass der Bau bzw. der (Musik-)Betrieb weit davon entfernt ist, dem Wahren, Guten und Schönen zu huldigen, wenn die Egoismen der Künstler Gelegenheit haben, sich auszubreiten, ist bekannt. Dass daneben bisweilen echte, also haltbare Kunst produziert wird, gehört zu den Vorzügen eines Berufs, in dem das Gloriose oft dicht neben dem charakterlich Peinlichen liegt; Garben schaut auf Beides – und findet für Beides die angemessenen Worte (dass er ein Freund der Loriotschen Ironie ist, kommt seinen kritischen Erinnerungen so zugute wie das souveräne Einstreuen gerade passender Gedichtzeilen). Auch Länder und Konzertsäle wie Opernhäuser geraten einschließlich akustischer Analysen in den Blick, v.A. Japan, auch Italien, die USA – und die Expeditionen auf gleichsam inneren Kontinenten. Garben hat als Dirigent, Pianist und nicht zuletzt als Bearbeiter und Entdecker viele Projekte realisiert, die unser Wissen um die Musikgeschichte bereichert haben. Er hat mit dem Vindobona-Ensemble klassische Kammermusik-Fassungen klassischer Werke eingespielt, er hat sich dem gesamten Liederwerk Carl Loewes gewidmet, er hat äußerst umfangreiche Wagner-Bearbeitungen Hermann Behns zum Klingen gebracht – und er hat sich immer wieder für ein Repertoire eingesetzt, das sich, wie Ferdinand Ries’ köstliche Sonate sentimentale, jenseits des Mainstreams befindet (die angefügte Diskographie sagt schon viel) – und er bekennt, dass er die „historisch informierte Aufführungspraxis“ für einen Irrtum hält, ja: für eine vibratolose Impotenz, die der Musik allen Klang und alle Melodik austreibt. Einstmals bekannte und immer noch konzertierende Dirigenten, Dirigentinnen (Joana Mallwitz, auf die der Nürnberger Opernfreund nichts kommen lassen will…) und Pianisten fallen ebenfalls, mal mehr, mal weniger, bei Garben durch. Die Wortwahl ist höflich, aber deutlich – und informiert. Um es mit Alfred Döblin zu sagen: „Ein Kerl muss eine Meinung haben.“ Man liest die Meinungen – und ist nicht verstimmt, nicht einmal dann, wenn man dies oder jenes schlicht anders sieht oder besser: hört.

Aber man hat ja, als glücklicher Leser dieses wunderbar informativen wie unterhaltsamen Buchs, auch nicht die Eidechsenohren eines Cord Garben.

Frank Piontek, 6. November 2025


„Vieles sah ich, Seltsames hört’ ich“.
Aus meinem Musikleben

437 Seiten, viele Abbildungen
Staccato Verlag