Berlin: „Die Zauberflöte“, Wolfgang Amadeus Mozart

Drei Fragen: Können Stummfilme altern? Im Prinzip nicht, denn sie sind bereits so alt, dass sie kaum älter werden können. Kann Die Zauberflöte altern? Aller Voraussicht nach nicht. Kann eine Zauberflöten-Inszenierung altern? Ja, aber sie muss es nicht.

© Jaro Suffner

Eine Inszenierung der Oper, die bereits vor 12 Jahren herauskam und immer noch ihr Publikum findet: es ist nicht außerordentlich, aber bemerkenswert. Barrie Koskys Zauberflöte kam 2012 heraus, inzwischen gastierte sie auf allen (!) fünf Kontinenten, erlebte über 600 Aufführungen, bezauberte inzwischen über eine halbe Million Zuschauer und -hörer – und konnte am 5. März 2024 ihren 150. Berliner Geburtstag feiern, wie der Regisseur dem Publikum in einer Video-Botschaft mitteilte. Nun zwar im als Ersatzbühne genutzten Schiller-Theater, aber immer noch geliebt und bejubelt von einem Publikum, auf das andere Häuser und Produktionen nur neidisch schauen können. Der Rezensent gibt zu, dass er während einer Opern-Vorstellung noch nie von so viel Post-Punks im Publikum umgeben war, ja: dass er in einem gut aufgelegten Pulk saß, in dem sich der süße, in den Klamotten hängengebliebene Duft irgendeines Krauts und das Knistern einer Chipstüte gut vertrugen. Man sah am Abend fast so viel Tatoos wie Animationen auf der Bühne. So divers, denkt sich der Besucher, könnte es schon 1791 im Freihaustheater auf der Wieden ausgesehen haben, wo Salieri neben Seifensiedern saß.

Eigentlich – und uneigentlich – müsste man zu Beginn von den Protagonisten der Aufführung sprechen, ohne die keine Inszenierung und keine Oper möglich ist: die Sänger und die Instrumentalisten. In diesem Fall ist’s – und dies auch, weil das Niveau der Interpreten zwar gut, aber im Verglich zu sog. „großen“ Häusern nicht herausragend ist – nötig, zunächst einmal die sehr besondere Ästhetik der Inszenierung zu würdigen, aber egal: Mir hat unter den Sängerinnen besonders die Pamina der Lavinia Dames gefallen. Sie spielt und singt keine mädchenhafte, sondern eine durchaus frauliche Königstochter. Ihr Ton ist markant, doch nicht dröhnend, ihr Ausdruck deutlich, doch nicht penetrant. Man hört: Opernrollen, wenn sie bedeutend sind, halten viele Interpretationen aus. Paminas Tamino heißt Juan Francisco Gatell, er artikuliert den jungen Mann dank seines südlichen Timbres weich und lyrisch, zutiefst innerlich und an den richtigen Stellen dramatisch. Das alles passt übrigens schon glänzend zu dem, was wir sehen; die Kostümfrage reduziert sich nicht allein auf das, was ins Auge fällt, sondern auch auf das, was wir hören, aber vielleicht (das sind so Klippen der Hermeneutik) wollen wir auch nur das hören, was wir gerade erblicken; genug: es reicht, den Zusammenhang aller Elemente dieses nicht allein aufgrund des Geburtstags besonderen Abend zu bemerken. Philipp Meierhöfer ist ein erstklassiger Papageno, und Sarastro ist bei Tijl Faveyts sehr gut aufgehoben, sein Bass ist stark, tief und doch klar, was ihn auch für die Rolle des ersten Sprechers prädestiniert, den man hier allein hören, nicht – oder doch nicht als Person – sehen kann.

© Jaro Suffner

Die Königin Gloria Rehm glänzt, wenn auch nicht durch lupenrein artikulierte Spitzentöne, deren Abweichungen jeder Esel zu hören vermag, sondern durch Ausdruck an sich. Sehr gut, auch gut zusammen, klingt das Terzett der drei Damen Mirka Wagner, Karolina Gumes und Elisabeth Wrede, die ihre attraktiven Figuren auch mit vokalem Spielmaterial ausstatten. Monostatos heißt Ivan Turšić, Papagena Julia Schaffenrath. Beide Sänger füllen ihre kleinen bis sehr kleinen Rollen – rollendeckend aus. Bleiben die drei Knaben, die mit drei Tölzern besetzt sind, und die zwei Geharnischten, die genannt werden müssen, weil sie, zusammen mit dem Chor unter David Cavelius, das sog. ordentliche Niveau des Hauses bestätigen: Johannes Dunz und Ferhet Baday. Und das Orchester spielt unter Hendrik Vestmann einen sehr flotten, agilen, klanglich durchsichtigen Mozart heraus, dass es eine Freud’ ist.

Es – also das Tempo, das vom Orchester der Komischen Oper angeschlagen wird – passt, es dürfte kein Zufall sein, nun auch trefflich zur optischen Sphäre der Aufführung. Kosky hat zusammen mit Suzanne Andrade (Regie) und Paul Barritt (Animationen) vom Ensemble „1927“ eine Zauberflöte realisiert, die, Stichwort: Freihaustheater auf der Wieden, sich zunächst auf das Bildhafte des Werks kapriziert. Während die Sänger allein vor einer weißen Wand und unabgesichert in großer Höhe agieren müssen (Chapeau für diese Konzentrationsleistung), wirft der Animationsapparat beständig lebende Bilder an die Fläche. Der Witz besteht darin, dass hier nicht das Video als zusätzliches Element eingesetzt wird, sondern integraler Bestandteil der Inszenierung ist oder anders: Die Inszenierung besteht aus einer untrennbaren Mixtur aus lebenden Menschen und mal mehr, mal weniger flimmernden Filmen. Der Stummfilm ist dabei nur eine, wenn auch die wichtigste stilistische Grundlage; dass Pamina wie Louise Brooks und Papageno wie Buster Keaton, Monostatos wie Nosferatu und Tamino wie ein Gentleman des silent movie der 20er aussieht und agiert, ist so unübersehbar, dass die Gleichung Zauberflöte = Traumfabrik-Fabrikat angesichts der bekannten Widersprüche der Handlung und der Figuren durchaus aufgeht. Zweites Element ist das des Surrealismus, der in den 20ern seine Blütezeit erlebte, drittes schließlich das Vaudeville, das in der Revue-Figur der Papagena und den kleinen putzigen Glöckchen-Girls des liebeskranken Papageno gipfelt. Dem Gentleman aber gehört eine sehr aparte Zauberflöte: Pamina alias Louise Brooks als kleine nackte Zauber-Elfe, die, einen Notenschweif hinter sich herziehend, lustig durch den Filmraum schwirrt. Die drei Damen ähneln den Prostituierten in den Gemälden von Otto Dix, Sarastro ist, wie seine Priester, ein schwer bebarteter Bürger im Frack, wie ihn das frühe Kino liebte, und die drei Knaben kommen eben wie drei Knaben von Anno 1927 daher. Und da der Stummfilm niemals stumm war, sondern immer von Musik begleitet wurde, kam man auf die ingeniöse Idee, die durch Zwischentexte ersetzten Dialoge von Ausschnitten aus der c-Moll-Fantasie KV 475 und der d-Moll-Fantasie KV 397 zu begleiten; dass sich Lutz Kohl, Hammerklavier, auch als Stummfilmpianist betätigen könnte, steht außer Frage. Es passt aber auch, woran man hört, dass Bühnen-Musik immer polymorph pervers ist. Sie „passt“ einfach zu erstaunlich vielen pathetischen Stummfilmgesten und Bildern.

© Jaro Suffner

In diesem Fall sind’s schon sehr viele: von fliegenden rosa Elefanten und roten Herzen über Papagenos Eulenvögel und Monostatos’ wilden Hunden (die auch als Sklavenchor auftreten) zum Riesenkopf des Sprechers und dem Spinnennetz der Mutter. Steht die komplexe Bildtechnik immer im Dienst von Mozarts und Schikaneders Dramaturgie, erschöpft sie sich doch nicht in der bloßen Bebilderung offensichtlicher Aktionen. Die Inszenierung fügt der langen Deutungsgeschichte der Oper durchaus eigene Akzente hinzu. Die Reiche der Königin der Nacht und der Priester sind da durchaus keine Alternativen: Pamina fängt sich – die Idee ist originell und nachvollziehbar – während der ersten Arie der Königin im Spinnennetz des tödlichen Muttermonsters, während Sarastros Priester sich lediglich auf die bloße Vernunft, die Rationalität, die mathematisch abgezirkelte, auf Millimeterpapier fixierte Planwirtschaft zu verstehen scheinen. Selbst Sarastros Tiere, allen voran eine mechanische Ente, wie sie schon das 18. Jahrhundert kannte, gehorchen, im Gewgensatz zu Papagenos schwarzer Katze, dem Diktat des Automatismus: so wie die schwanzwedelnden Affen, die unser Liebespaar zu bewachen haben. Sehr witzig: die drei Damen namens Klatsch, Tratsch und Schwatz verfügen dagegen über Gehirn-Areale mit eben diesen Bezeichnungen; so macht sich die Inszenierung, politisch wunderbar unkorrekt, über jene Geschlechterstereotypen lustig, die zwischen 1791 und heute grassieren.

Die Fahrt in die Unterwelt aber wird zu einer Begegnung mit dem Tod, die nur durch die Liebe, wie sie auch der Stummfilm kennt, überwunden werden kann. Bevor es zum finalen Chor kommt, werden wir jedoch Zeugen eines Filmrisses. Der rote Vorhang fällt, und die Herren und Damen des Chors sehen nicht anders aus als die beiden Helden, die sich schließlich, wie in einem echten silent movie, nur noch zu küssen haben. Wunderbar, wie am Ende auf alle Animation verzichtet wird, um die Oper augenzwinkernd dahin zurückzuholen, wo sie einst entstand: in den menschlichen Herzen. Denn nur eine Aufführung, die auch von innen bewegt, ist eine gute Aufführung.

Riesenbeifall für eine ungewöhnlich charmante, bildmächtige, zum Lachen und Lächeln animierende und doch an den wesentlichen Stellen bewegende Zauberflöte.

Frank Piontek, 8. März 2024


Die Zauberflöte
Oper von Emanuel Schikaneder und W.A. Mozart

Komische Oper Berlin (im Schiller-Theater)

Premiere am 15. November 2012
Besuchte Aufführung: 5. März 2024

Inszenierung: Barrie Kosky
Dirigent: Hendrik Vestmann
Orchester der Komischen Oper Berlin