Immer wieder bietet das Konzerthaus Dortmund herausragende konzertante Aufführungen großer Opernproduktionen oder aber – wie in diesem Fall – erlesener Oratorien an. Im ausverkauften Dortmunder Konzertsaal war nun mit Händels Oratorium Jephta dessen letztes neu geschriebenes Oratorium zu hören, das der berühmte Sohn Halles zwischen dem 21. Januar 1751 und dem 30. August 1751 komponierte. Nach seiner Einbürgerung im Jahre 1727 war Händel als Komponist italienischer Opern in London in aller Munde. Als das Londoner Publikum der italienischen Oper dann den Rücken kehrte, gelang es Händel, mit seinen jährlich zwei Oratorien die Gunst der Londoner zurückzuerobern, obwohl seine fünfundzwanzig Oratorien in vielem von den früheren Opern kaum zu unterscheiden sind. So gibt es auch in Jephta wie in der Opera seria sechs Solisten, es gibt drei Akte und es gibt insgesamt neun große Chorszenen, bei denen Händel allerdings kräftige Anleihen bei dem böhmischen Komponisten Franz Johann Habermann nahm, ein Vorgehen, das unserem Originalitätsanspruch zuwider läuft, in der Zeit Bachs oder Händels aber durchaus üblich war. Vielleicht war dieser Umstand aber auch der zunehmenden gesundheitlichen Beeinträchtigung Händels geschuldet, die ihn auch dazu zwang, die Komposition nach dem 2. Akt für vier Monate zu unterbrechen. Die Uraufführung am 26. Februar 1752 im Theatre Royal in Covent Garden dirigierte Händel jedenfalls schon fast ganz erblindet.
Auch für Jeptha gewann Händel wie schon bei anderen Oratorien zuvor den Geistlichen Thomas Morell als Librettisten, der sein Libretto in Anlehnung an das alttestamentliche „Buch der Richter“ und zahlreiche vorliegende Bearbeitungen des Stoffes verfasste. Im Alten Testament wird von Jephta , dem Sohn einer Prostituierten, berichtet, der die Israeliten in ihrem Kampf gegen die tyrannischen Ammoniter anführt, Jehova um Beistand bittet und für dessen Hilfe das Gelübde ablegt, nach siegreicher Rückkehr die Person zu opfern, die ihm als erste begegnet. Das Schicksal will es, dass diese Person Jephtas Tochter ist. Morell gibt ihr den Namen Iphis, fügt zudem z.B. als weitere Person Iphis Mutter Storgè ein und ändert den tragischen Schluss gegenüber der biblischen Vorlage entscheidend um. Die Bitten der Israeliten um Gnade für Iphis finden Gehör. Ein Engel verkündet als angelus ex machina die Aufhebung des Gelübdes. Das Brandopfer wird nicht vollzogen, Iphis wird ihr Leben als keusche Tempeljungfrau Jehova widmen und auf ihre Liebe zu Hamor verzichten. Ein Happy End, mit dem Händel und Morell dem Zeitgeschmack mit dessen humanistischer Grundauffassung entsprechen wollten.
In seinem sehr instruktiven Beitrag im Programmheft zitiert Bjorn Woll die Musikwissen-schaftlerin und Händel-Expertin Silke Leopold, die auf die singuläre Bedeutung dieses letzten Oratoriums von Händel aufmerksam macht: „ … nirgendwo sonst gelang ihm die Synthese zwischen geistlicher und weltlicher Materie, zwischen biblischem Stoff und dem Geist der antiken Tragödie, zwischen Oper und Oratorium so perfekt wie in diesem Werk.“ Und Woll sieht die geglückte Verbindung von Altem Testament und griechischer Tragödie vor allem darin, wie Händel durch die musikalische Umsetzung der Gefühle und Gedanken der tragenden Personen „Menschen aus Fleisch und Blut, mit all ihren Ängsten und Sorgen, ihren Leidenschaften und ihrer Freude“ in den Mittelpunkt der Handlung rückt. Um z.B. die Gefühle von unbekümmerter Freude, aber auch demutsvoller Ergebenheit (Iphis), Verzweiflung und Trauer, aber auch tiefer Gottergebenheit (Jephta), quälender Sorge, Furcht und Wut, schließlich auch Seligkeit über die Rettung der Tochter (Storgè) oder Mitleiden und Opferbereitschaft für die Geliebte (Hamor) in allen Schattierungen musikalisch auszudrücken, bedarf es exzellenter Sängerinnen und Sänger. Und in dieser Hinsicht blieben an diesem Abend keine Wünsche offen.

Michael Spyres ist in der Titelpartie eine Idealbesetzung. Ehemals Spezialist in Rossini-Opern und wie kaum ein anderer zu Hause im Belcantofach ist Spyres mittlerweile nicht nur ein auf allen Bühnen der Welt bejubelter Sänger in Opern des Verismo, sondern feierte auch in den beiden letzten Jahren als Lohengrin oder aber Siegmund bei den Bayreuther Festspielen Triumphe. Ursprünglich aus dem Baritonfach kommend, besitzt Spyres Stimme die für die Partie des Jeptha notwendige Tiefe, er prunkt aber auch andererseits mit mühelosen Spitzentönen, vor allem aber mit einer Legatokultur, die bewundernswert ist. Seine große Arie zu Beginn des dritten Aktes, in der Jeptha ein gütiges Schicksal für seine Tochter Iphis erfleht („Waft her, angels, through the skies, Far above yon azure plain“), gelang zum Weinen schön.
Joyce DiDonato verlieh Jephtas Ehefrau Storgè all jene Gefühle, die diese Figur in ihrer Menschlichkeit besonders auszeichnen. Der Abschiedsschmerz bei Jephtas Auszug in den Krieg, die quälende Ungewissheit über dessen Ausgang, die bösen Vorahnungen und Befürchtungen im Hinblick auf das Wohl ihrer Tochter, Verzweiflung und Wut über das von Jephta geleistete Gelübde, schließlich aber die Freude über die Begnadigung der tot geglaubten Tochter wurden in der Interpretation der amerikanischen Ausnahmesängerin zu einem bewegenden Erlebnis. DiDonatos Mezzosopran hat über die vielen Jahre hinweg nichts an Leuchtkraft, Beweglichkeit und bronzener Klangfarbe verloren. Eine wunderbare Leistung! Die französische Sopranistin Mélissa Petit spielte und sang die Tochter Iphis ganz bezaubernd. Mit glockenklarer, in den Höhenlagen geradezu aufblühender Stimme, mit Koloraturen wie an einer Perlenschnur aufgezogen gab sie der jugendlichen Lebensfreude und der zuversichtlichen Hoffnung von Iphis auf ein glückliches Leben mit dem Geliebten beredten Ausdruck. Ganz wunderbar aber auch die ergebene Absage der Tochter Jephtas an das Leben im 3. Akt „Farewell, ye limpid springs and floods, Ye flow’ry meads and leafy woods“ in wunderschönstem Piano. Jasmin White als Hamor mit flexibler, warm timbrierter und in den Koloraturen beweglicher Altstimme, Cody Quattlebaum mit prachtvollem Bariton als Zebul und nicht zuletzt Anna Piroli mit wirklich engelhaftem Sopran als Engel komplettierten ein Ensemble, das wohl kaum zu überbieten is

Wenn sich am Ende alle Solosängerinnen und Solosänger unter die 17 Mitglieder des 2021 gegründeten Chors Il pomo d’oro mit ihrem Chorleiter Guiseppe Maletto mischten und den Schlusschor gemeinsam sangen, so kann man dies auch als Reverenz für eine wirklich fantastische Darbietung dieses wunderbaren Gesangsensembles werten, der die Leistung des gleichnamigen Orchesters – Il pomo dòro – entsprach. Francesco Corti spielte nicht nur den Cembalopart, sondern dirigierte diese außergewöhnliche Formation von Musikerinnen und Musikern, die als Spezialisten der Barockmusik zu den Besten auf dem Gebiet der historischen Aufführungspraxis gehören, mit spannungsgeladener Dynamik, aber auch großer Verinnerlichung und souveräner Ruhe. Das Publikum sparte nicht mit enthusiastischem, geradezu überbordendem Beifall für eine Interpretation von Händels letztem Oratorium, das man in dieser musikalischen Perfektion wohl schwerlich noch einmal so hören wird.
Norbert Pabelick, 3. Mai 2025
Jephta
Georg Friedrich Händel
Konzerthaus Dortmund
Aufführung am 2. Mai 2025
Musikalische Leitung: Francesco Corti
Orchester: Il pomo d‘oro