Leipzig: „Die Meistersinger“, Richard Wagner

Ich weiß nicht, woran ein sog. normaler „Meistersinger“-Besucher und eine „durchschnittliche“ „Meistersinger“-Liebhaberin (hübsches Bild…) den Wert einer gelungenen „Meistersinger“-Aufführung“ fest macht. Bei mir – der Rezensent kann und muss da nur von sich selbst sprechen – ist das letzte Viertel der Schusterstube der Mark- und Probierstein, der bei ihm über Wohl und Wehe, Traum und Wahn, Realität und Imagination einer beglückenden „Meistersinger“-Aufführung entscheidet. Mag das bekanntlich „problematische“ Finale der Oper, mögen die antisemitischen Kollateralschäden, denen Wagner sein Werk ausgesetzt hat, noch so differenziert inszeniert worden sein, mag Beckmesser brillant über die Bühne flattern und Sachs vom ersten bis zum letzten Takt spielerisch UND zugleich (das ist ja schon eine Meisterleistung) vokal präsent sein: Wenn die Schusterstube nicht „funktioniert“, ist Alles zwar nicht Nichts, doch Weniger. Das macht: die ungeheure menschliche Komponente der Szene, der Höhepunkt des emotionalen Dramas, den Wagner, sehr genau, vor die Taufe und das finale Volksfest gesetzt hat. Wer hier versingt, hat es, überspitzt ausgedrückt, auch bei mir vertan.

© Tom Dachs

In Leipzig aber, in der letzten Aufführung der Spielzeit, die mit der letzten Aufführung der vor knapp anderthalb Jahren uraufgeführten Inszenierung ineinsfällt, in Leipzig aber machen sie m.M. nach alles richtig. Sie: das sind die Eva der Elisabeth Strid, der Sachs des James Rutherford und der Stolzing des Tomislav Muzek, der sie kraft seines so lyrischen wie kraftvollen Tenors zurecht ersingt. Kein Zweifel: Zwischen den Figuren brennt es; man konnte es ahnen, als Sachs (und wie auch nicht??) in einem unbedachten Moment fast die Lippen der jungen Frau berührte, als sie die Stube betrat. Wenn 45 Minuten später – Wagner war schon ein psychoanalytischer Fuchs höchsten Grades – noch einmal das melancholische „Wahn-Motiv“ erklingt, nachdem doch gerade der Shootingstar mit seinem überwältigenden „Song“ triumphal gesiegt und sich den Preis in Form seiner Geliebten errungen hat, akzentuiert der Regisseur diese kurze, doch im Sinne Goethes  wahrlich „bedeutende“ Nuance, indem er den Blick der Zuschauer auf den für einige kurze Sekunden wie in sich eingesunkenen Sachs, den „geschädigten Dritten“, lenkt – ohne aus dem seelischen Ereignis eine Katastrophe zu machen. Die kommt erst ein paar Minuten später, aber dazu weiter unten.

Jegliche noch so ausgepichte Interpretation des vielschichtigen Werks wäre also verloren, wenn die Sänger einschließlich der Interpreten der sog. Kleinen Meister ihre Parts nicht vokal und gestisch stemmen würden. Michael Volle – am Abend war er im Publikum zu sehen -, der dem Sachs in seinen Interpretationen das tiefgreifendste Gesicht der gegenwärtigen Wagner-Szene gegeben hat, Volle hat einmal in einem kleinen Beitrag für die Bayreuther Festspiele live gesagt, dass der Sachs die härteste Partie der gesamten Opernliteratur ist.

© Tom Dachs

Man muss jeden Sänger bewundern, der den Sachs nicht allein stimmlich bis zur letzten Szene noch so zu gestalten weiß, dass Überlegungen über dessen Stimmkapazität erst gar nicht aufkommen – und spielen muss er, so schweißtreibend das auch ist, auch noch. Rutherford macht das, wie aus dem Bilderbuch, ganz vorzüglich. Er verleiht mit seinem warmen, klaren Bassbariton der Person die Würde, die ein „normaler“ Sachs zu haben hat, gestaltet die Höhepunkte wie die „kleinen“ Stellen souverän und kommt unbeschadet bis zur letzten „Kunst“. Er spielt einen menschlichen Sachs mit all seinen Widersprüchen, seiner Humanität wie mit seiner Lust zur Ironie, seiner Trauer und seiner Emphase. Chapeau! Astrid Kessler ist eine wunderbar jugendliche, wunderbar realistisch, dabei nicht überagierende Eva, der wir die frische Verliebtheit in den Ritter vom ersten Moment an abnehmen – und ihre Stimme transzendiert dieses Jugendlichsein, ohne auf die Fülle eines erfahrenen Soprans verzichten zu müssen. Spielen können sie ja alle; David Poutney führte seine Sänger souverän durch die Handlung, in der die Komödie ebenso ihren Platz hat wie die Warnung vor der Tragödie. Man nimmt ihr und dem Tenor einfach ab, dass sie kurz, bevor der Vorhang aufgeht, einen coup de foudre erlebten – der das Finale verständlich macht. Hier hat sich Pountney den einzigen „Regieeinfall“ gegönnt, der den politischen Inhalt von Sachsens Schlussansprache und die Integration des nicht aus Gründen der Kunst nach Nürnberg gekommenen Stolzing gleichsam korrigiert. Die geschädigte Dritte ist plötzlich Eva, die es nicht begreifen kann, dass Stolzing auf die Vereinsmeierei verzichtet. Statt sich auf sie zu konzentrieren, um derentwillen er doch die Meisterwürde anstrebte, lässt er sich, so lese ich das, vom Verein buchstäblich vereinnahmen, statt mit ihr, wie im zweiten Akt geplant, durchzubrennen. Man mag diese Lösung, die eine kleine Tragödie ist, inhaltlich für falsch halten – theatralisch funktioniert sie: mit Eva, ganz weit oben in der Mitte der obersten Stufe stehend, sehr sehr gut. Auch eine Möglichkeit, die Widersprüche, die zwischen Sachsens anfänglicher und durchaus schwerer Kritik an den Meistern und ihren Regeln und seiner Apotheose des Meistertums nach wie vor herrschen. Man soll nicht so tun, als sei die Dramaturgie des Meisterwerks der „Meistersinger“ konsistent: sie ist es nicht, auch wenn der kulturelle Ausgleich, den Sachs am Ende behauptet, uns heute sympathisch in den Ohren klingen mag.

© Tom Dachs

Stufen? Pountney hat zusammen mit seinem Bühnenbildner Leslie Travers die „Meistersinger“ in eine bespielbare Symbolbühne gestellt. Der Raum bleibt über drei Akte erhalten; im zweiten und der ersten Hälfte des dritten sehen wir auf Einbauten, sodass der Rahmen des freien amphitheatralischen Runds gewahrt bleibt. Wagners revolutionäre Erinnerungen an das quasi demokratische Volkstheater der griechischen Antike, dem zumal seine dramaturgische Konzeption des „Ring“ und die Architektur des Bayreuther Festspielhauses so viel verdanken, müssen selbst dem Blindesten auffallen. Das Schöne bei all dieser gebauten Setzung aber ist der Umstand, dass der Raum erstklassig bespielbar ist. Schön ist hier nicht allein das ebenso symbolische Inlay des aus Bauteilen bestehenden Nürnberger Stadtmodells (die Stadt: eine Kunstfantasie Richard Wagners). Schön ist auch der erhabene Eindruck der auf ihren Sitzen sitzenden Meister – sie werden sinnigerweise nicht auf Teilen Alt-Nürnbergs platziert, sondern dürfen auf hervorragenden Bauten des deutschen Mittelalters Platz nehmen: vom Lübeck Holstentor über die Marktkirche in Halle zur Lorscher Torhalle. Alt-Nürnberg wird, das ist herkömmlich, während der Prügelfuge ruiniert werden. Wenn sich der Raum zur Schusterstube öffnet, erblicken wir auf deren Dach die Reste der alten Stadt – bevor sie mit der Festwiese verdeckelt werden, um einem neuen und bis dato noch nicht gesehenen Bau Platz zu machen: der Ort der Entscheidung ist der deutsche Reichstag in seiner heutigen Erscheinung. Deutsch bleibt deutsch – von den Meistersingern und deren kultureller Umwelt zur modernen Demokratie. Hier, im repräsentativen Bauwerk eines aufgeklärten Politikverständnisses stehend, darf der Siegersänger seine differenziert nuancierende Stimme erklingen lassen und selbst einen Hardliner wie Kothner (Tobias Schabel singt und spielt ihn betörend genau) davon überzeugen, dass seinem Charme nicht entkommen werden kann.

So bilden Pountney, sein Bühnengestalter und die Kostümbildnerin Marie Jeanne Lecca, die nur die Meister in die pseudohistorischen Kostüme eines kostümversessenen und nostalgiebeseelten 19. Jahrhunderts steckt und die Lehrjungen als paramilitärische Historismustruppe auftreten lässt, die „Meistersinger“ ab: symbolisch und zugleich real, trotz seiner totalitären Bezüge mit einem insgesamt freundlichen Auge auf die politischen Implikationen und die gefühlsmäßigen Tiefen der Oper schauend.

© Tom Dachs

Entkommen ist kurz zuvor der absolut Geschädigte. Beckmesser verschwindet schon kurz nach seiner selbstverschuldeten Niederlage im Dunkel der Seite, die am Rand der Treppenstufen die unteren Ein- und Ausgänge bilden. Beckmesser ist von Beginn an der Fremde; wie Mephisto oder ein strenger Humanist der Sachs-Zeit durchstreicht er die Welt, die nicht die seine ist. Mathias Hausmann singt ihn gestochen scharf: als eitlen Fatzke, dem kaum unser Mitleid gehört, also ganz im Sinne Wagners, der im Kritiker seinen Feind an sich treffen wollte. Sein Gegenbild ist nicht allein der liberale Sachs, sondern auch der gute Pogner, in dem sich bürgerliche Ehrbarkeit, Kunstliebe und die Eitelkeit des reichen Mannes ein sympathisches Stelldichein geben. Sebastian Pilgrim singt ihn mit einem wunderbar warmen Bass. Bleibt eine weitere Hautnebenrolle. Der David wurde als ein wenig indisponiert angekündigt, Matthias Stier hört man es nicht an, wenn er quicklebendig seine Meistersingertön- und -weisenarie zum Besten gibt und bis zum Quintett und darüber hinaus nicht als geschädigter Tenor parliert. Die Fünfte im Quintett ist die Magdalene der Karin Lovelius, die der kleinen, doch unverzichtbaren Rolle den reifen Ausdruck der „alten Jungfer“ verleiht und im zweiten Akt wie Eva selbst hinter dem gigantischen Fenster („Meistersinger“-Kenner mögen sich an Herheims Salzburger Inszenierung von 2013 erinnert fühlen) auf der Schaukel schwebt.

Das Ineinander von Spielfreude und Symboltheater, Aktion und ideologischer Idee aber wird im glänzenden, volltönenden wie zu leisesten Akzenten fähigen, von Thomas Eitler-de Lint einstudierten Chor der Oper Leipzig wie vom Orchester gespiegelt. Christoph Gedschold leitet das Gewandhausorchester; es spielt Wagners Partitur in einer bemerkenswerten Mischung aus lateinischer Klarheit und deutscher Gründlichkeit: ganz so, wie Wagner sie auskomponiert hat. Nur, dass die Regie hier die eines Briten ist, der mit ruhigem Blick auf die (deutsche) Geschichte schaut.

Und dass Eva, Walther und Sachs eine tief bewegende Beziehung haben, die einem die Tränen in die Augen zu treiben vermag.

Frank Piontek, 11. Juli 2023


Die Meistersinger von Nürnberg

Oper von Richard Wagner

Premiere am  3. Juli

Besuchte Aufführung: 9. Juli 2023

Inszenierung: David Poutney

Choreographie: Denni Sayers

Musikalische Leitung: Christoph Gedschold

Gewandhausorchester