Marseille: „La Petite Sirène“ von Régis Campo und „Monsieur et Madame Denis“ von Jacques Offenbach

Die kleine Meerjungfrau oder La petite sirène (Clara Barbier Serrano) trinkt ein Elixier, um Beine zu bekommen. Hinter ihr die Wasserhexe (fulminant: Marion Lebègue)
© Dominique Jaussein

Auf dem Giebel der Oper von Marseille steht: „Die Kunst bekommt die Schönheit von Aphrodite, den Rhythmus von Apollo, das Gleichgewicht [die Ausgewogenheit] von Pallas Athene und die Bewegung von Dionysos“. Diese Vielseitigkeit steht auch für die Spielzeiten der Opéra de Marseille seit 100 Jahren, wo Dionysos, sprich die leichte Muse, genauso viel Platz bekommt wie Apollo, die ernste Muse. Im letzten Jahrhundert gab es im Schnitt 200 Vorstellung im Jahr und kam es nicht selten vor, dass an einem Abend Meyerbeer und am nächsten Offenbach gespielt wurde. Mit dem Abklingen des Interesses für Operette ab den 1980er Jahren, siedelte diese vom Haupthaus, der Opéra Municipal (der Stadtoper mit 1750 Plätzen) in das kleinere Haus über, dem Théâtre Municipal de l’Odéon (750 Plätze). Aber diese sind immer rammelvoll, denn in Marseille gibt es ein äußerst treues Publikum für die leichte Muse. So erinnere ich mich an eine Vorstellung der „Lustigen Witwe“ vor dreißig Jahren – natürlich auf Französisch, so wie damals alles auf Französisch gespielt wurde -, wo das Publikum quasi aus dem Saal mitsang. Denn sie kannten und liebten alle Werke, von Lehar, zu Offenbach und natürlich den damaligen Rennern, „La belle de Cadix“ und „Le chanteur de Mexico“ von Francis Lopez.

Hier wird gelacht: das Théâtre de l’Odéon, die „Volksoper“ der Opéra de Marseille (mit dem Bühnenbild einer Offenbach-Vorstellung)
© Ville de Marseille

Inzwischen gibt es nur noch einmal im Monat Operette, am Samstag und Sonntag Nachmittag, damit die Großeltern mit ihren Enkeln kommen können. Und im Rahmen der allgemeinen Bemühungen, um Kinder in die Oper zu bekommen – denn sie sind ja schließlich das Publikum von morgen – wurde jetzt eine neue Kinderoper in Auftrag gegeben bei dem Komponisten Régis Campo. Campo (1968 in Marseille) ist ein angesehener französischer Komponist, seit 2017 sogar aufgenommen in der Académie des beaux-arts des Institut de France, wo er auf dem Sessel sitzt, den vor ihm Oliver Messiaen eingenommen hat. Doch mit Messiaen hat seine jetzige Musik nichts zu tun, denn seit ungefähr 20 Jahren hat Campo die ernste gegenwärtige Musik verlassen für eine leichter bekömmliche Muse. In diesem Sinne hat er im Auftrag des Arcal (eine löbliche Zusammenarbeit der Opern von Avignon, Marseille, Nice und Toulon) eine Kinderoper geschrieben nach der „Kleinen Meerjungfrau“ von Hans Christian Andersen (1837). Für vier Sänger und kleines Orchester (12 Musiker). Eine vergnügliche Stunde in einem rammelvollen Saal, wo die Hälfte des Publikums keine zehn Jahre alt war. Bérénice Collet hat dies ansprechend inszeniert in der einfachen aber jedoch nicht einfältigen Ausstattung von Christophe Ouvrard, wunderbar beleuchtet durch Alexandre Ursini. Clara Barbier Serrano berührte als La petite sirène, auch wenn man nicht gut verstand, warum sie sich gerade in den nicht überaus attraktiven Prinzen von Sebastian Monti verliebte (zugegeben, keine besonders liebenswerte Rolle). Elsa Roux Chamoux war ihre liebenswürdige Schwester, die der bösen Hexe ihre schönen Haare opfert, in dem vergeblichen Versuch, die unglückliche Meerjungfrau aus der seelenlosen Menschenwelt zu retten. Der Clou der Vorstellung war für uns Marion Lebègue in der Doppelrolle als liebe Großmutter und böse Hexe. Nicht nur weil sie beide eindrucksvoll gestaltete, sondern weil wir sie am Vorabend als Uta in „Sigurd“ gehört hatten (zum Glück hatten wir den kleinen Programmzettel noch in der Tasche, denn wir konnten es uns gar nicht vorstellen). Zwei so unterschiedliche Rollen mit weniger als 12 Stunden Pause, dazu braucht man „métier“- „chapeau“! Das galt natürlich auch für die Musiker des Orchestre de de l’Opéra de Marseille, die ohne Müdigkeitserscheinungen frisch und fröhlich spielten unter der Leitung von Jane Latron.

Gutes Essen gehört immer dazu: der Prinz (Sebastian Monti) interessiert sich mehr für Meeresfrüchte als für die kleine Meerjungfrau. Daneben die Dirigentin Jane Latron und ihre Musiker (die bei der durch uns besuchten Vorstellung aus dem Graben spielten).
© Dominique Jaussein

Am Sonntag war der Saal auch wieder voll, das Publikum jetzt nicht größtenteils unter 10 sondern über 70 Jahre alt. Wie ich von meinen Sitznachbarn erfuhr, haben die meisten seit Menschengedenken keine einzige Operette verpasst. So wie eine energische Dame, die durch den „directeur de salle“ persönlich zu ihrem reservierten Platz in der ersten Reihe geführt wurde – erst dann konnte die Vorstellung anfangen – und danach kompetent mit den Musikern diskutierte. Sie ist inzwischen schon 96 Jahre alt – wo findet man heute noch so ein treues Publikum? In Marseille! Und immer noch neugierig auf Neues! Dafür steht der Offenbach- Spezialist Jean-Christophe Keck, den ich in meinen inzwischen Dutzend Offenbach- Rezensionen öfters lobend erwähnt habe. Denn ihm verdanken wir viele Entdeckungen und vor allem Neuausgaben verschollener Werke. Ein kleiner Blick auf seine Homepage der Offenbach Keck Edition bei Boosey & Hawkes genügt, um das Ausmaß seiner Arbeit zu begreifen. Keck präsentiert in diesem Theater schon seit 2016 seine „Sonntage mit Offenbach“, wo er jedes Mal eine vollkommen unbekannte Operette darbietet. „Monsieur et Madame Denis“ (1862) ist schon die 34ste! Immer mit seinem Pianisten Diego Mingola und einem eingeschworenen Sänger-Ensemble und – wie ich es von meinen Sitznachbarn erfuhr – seinem Markenzeichen: eine grüne Krawatte. Sechs Sänger sitzend auf der Bühne (sie stehen natürlich beim Singen auf), ein einfaches Klavier und ein Moderator – mehr haben sie nicht nötig. Die Vorstellung fängt an mit einer Einleitung, was in dem besagten Jahr alles in Paris passiert ist (beinahe alle Bühnenwerke Offenbachs wurden in Paris uraufgeführt), wie es gerade bei Offenbach persönlich aussah (Er ging ja als Theaterdirektor immer wieder pleite und schrieb wie besessen, weil er Geld nötig hatte) und worum es in diesem besagten Werk geht. Dann gibt es als „hors-d’œuvre“ (Vorgericht) ein paar Arien aus den vorigen Werken, die besonders gut gefallen haben, bevor das angesagte Oeuvre gespielt wird.

Die „Dimanches d’Offenbach“: Jean-Christophe Keck (mit grüner Krawatte), am Klavier Diego Mingola und sechs Sänger – mehr ist nicht nötig.
© Waldemar Kamer

Jean-Christophe Keck liest die Szenenanweisungen vor, in französischen Komödien oft an sich schon Literatur, und uns fehlt kein Bühnenbild, um uns das alles bildhaft vorzustellen. Gaston (Aurélie Fargue, eine Hosenrolle) hat seine Geliebte Lucile (Julia Knecht) aus dem Kloster entführt und will sich mit ihr bei seinem alten Patenonkel, Monsieur Denis, in Paris verstecken. Doch der Polizeiinspekteur Bellerose (Charles Mesrine) klopft schon an mit seinen Sergeants Brindamour (Dominique Desmons) und Jolicoeur (Nicolas Bercet) um beide zu verhaften… Onkel und Tante sind für ein Wochenende nach Saint-Germain gefahren und ihr Zimmermädchen hat die Instruktion bekommen keine Fremde ins Haus zu lassen. Zum Glück ist es keine gewöhnliche Dienstmagd, sondern die gewiefte Nanette (Louise Pingeot), die wie Mozarts Despina auch noch in den hoffnungslosesten Situationen Rat weiß. Sie befiehlt den jungen Liebenden sich in Sekundenschnelle als die alten Monsieur et Madame Denis zu verkleiden, stülpt ihnen deren Perücken über und diktiert, dass sie einen Mittagsschlaf halten, vor allem schwerhörig sein müssen und so wenig wie möglich sagen. Den Rest übernimmt sie. Das tut sie so temperamentvoll, dass bei Bellerose („schöne Rose“) das Herz klopft und auch andere Körperteile sich signalisieren und er von der Siesta des alten Paares profitieren will, um ein kleines Schäferstündchen mit Nanette zu halten. Es kommt zu Komplikationen, bei denen das ganze Versteckspiel aufgedeckt wird. Nun kann Nanette nur noch zu großen Mitteln greifen und dass es in Frankreich traditionell Korruption der Staatsbeamten mit köstlicher Speise und Trank. Die exzellenten, 40 Jahre alten Rotweine setzen die Polizeibeamten außer Dienst und sie werden gefesselt bis sie ihr Ehrenwort geben, nicht nur ein Auge, sondern gleich beide zuzudrücken. Man muss ja im Leben nicht immer alles was man sieht, auch gleich weitererzählen.

Alles wunderbar musikalisch umgesetzt. Denn bei Offenbach braucht man im Gegensatz zu Reyer keine großen Stimmen und Durchhaltevermögen, sondern Agilität, präzisen Rhythmus und prägnante Diktion – denn sonst gehen in der meist hohen Geschwindigkeit die herrlichen, leider meist unübersetzbaren Wortspiele verloren. Keck dirigiert gekonnt und sorgt dafür, dass es nie zu laut wird (denn dann kann Offenbach leicht vulgär wirken). Die Arien amüsieren und berühren und die großen Ensembles sind fulminant. Ein großes Lob für die Drahtzieherin Louise Pingeot, die wir schon in Paris, Rouen und Strasburg in Offenbach gehört haben, und ein Extra-Lacher für das musikalische Schnarchen von Jolicoeur („schönes Herz“) und Brindamour („ein Halm Liebe“ und zugleich ein korsischer Schafskäse) – allein schon was für Namen! „Monsieur et Madame Denis“ wurde nach der Uraufführung im Januar 1862 in Offenbachs Théâtre des Bouffes-Parisiens (das heute noch steht), in Berlin, Brüssel, Budapest, Hamburg und Wien nachgespielt, wo es im damaligen Theater am Franz-Josefs-Kai die Wiener Offenbach Begeisterung einläutete. Doch darüber wird Jean-Christophe Keck vielleicht ein andermal berichten. Denn erzählen kann er, gehaltvoll und amüsant. So diese Anekdote zur Originalpartitur: da die Ränder verkohlt waren, wollte er wissen, was denn damals mit dem Manuskript passiert sei. Und er fand, dass gerade während dieser Komposition in der wunderschönen „Villa Orphée“ Offenbachs in Etretat Feuer ausgebrochen ist. Der Komponist warf als erstes seine Manuskripte aus dem Fenster, die in dem ganzen Tohuwabohu einigen Schaden erlitten, und ließ sich dann einen komfortablen Sessel in den Garten tragen. Dort erwiderte den erstaunten Feuerwehrmännern: „dieses Spektakel kostet mich ein Vermögen, dann möchte ich es wenigstens komfortabel in der ersten Reihe anschauen können“. Über Offenbach gibt es noch vieles zu erzählen, denn wie bei dem großen Symposium zu seinem Geburtstag 2019 in Köln und Paris bekannt gegeben wurde, hat er ganze 110 Bühnenwerke komponiert, wovon nicht mal die Hälfte heute editiert ist. Also noch genug Stoff für viele weitere „Dimanches d’Offenbach“ am Théâtre de l’Odéon in Marseille!

Waldemar Kamer, 9. April 2025


La Petite Sirène
Régis Campo

Théâtre de l’Odéon de Marseille

Besuchte Vorstellung: 5. April 2025

Inszenierung: Bérénice Collet
Musikalische Leitung: Jane Latron
Orchester der Opéra de Marseille


Monsieur et Madame Denis
Jacques Offenbach

Théâtre de l’Odéon de Marseille

Besuchte Vorstellung: 6. April 2025

Klavier: Diego Mingola
Musikalische Leitung: Jean-Christophe Keck