Ein viel diskutiertes Experiment: Rekonstruktion mit Bühnenbild, Kostümen und „Regie“ der Uraufführung. Auch zu sehen im Internet: Was halten Sie davon?
Eine interessante Frage: „Warum inszenieren Sie die Opern nicht so, wie sie bei der Uraufführung waren? Das muss doch sicher im Sinne des Komponisten gewesen sein und damit wäre doch die ganze aktuelle Diskussion um das deutsche Regietheater hinfällig?“.
Sie wurde mir vor 25 Jahren im Auditorium des Louvre gestellt, wo es damals ein hochkarätiges jährliches Festival gab „Classique en Images“ (Klassik in Bildern), das gerade die Inszenierungen von Walter Felsenstein und den „Ring“ von Kupfer und Chéreau gezeigt hatte. Danach gab es eine Podiumsdiskussion zum Thema „Operninszenierung heute“ mit als Reizwort deutsches Regietheater – ein spezifisch deutsches Phänomen, das in ganz konkreten historischen Umständen in den 1970 Jahren in der BRD entstanden ist und grade in Frankreich „anklopfte“, wo man erst mal gar nicht wusste, wie dieses Wort überhaupt zu übersetzen sei, da es nicht nur der französischen Sprache, sondern der französischen Kultur so völlig wesensfremd ist. (Deswegen spricht man bis heute in Frankreich immer noch vom „Regietheater allemand“.) Die Frage wurde an mich gerichtet, weil ich zu dieser Podiumsdiskussion eingeladen war als damals in Frankreich nicht ganz unbekannter Opernregisseur. Doch da mehrere Leute aus dem Publikum riefen „Ja, wir wollen die alten Inszenierungen!“, habe ich die Frage gleich an die beiden neben mir sitzenden Opernintendanten weitergeleitet. Diese antworteten: ‚Nein wir können die alten Inszenierungen nicht wiederaufnehmen, denn „Oper ist kein Museum“. Wir freuen uns, sie hier im Louvre auf einer Leinwand zu sehen, aber nicht auf unseren Bühnen. Denn das Durchschnittsalter unseres Publikums ist jetzt ungefähr 60 Jahre und wenn wir wollen, dass die Operngattung nicht ausstirbt, müssen wir junges Publikum anlocken und dies erreichen wir nur mit „heutigen Inszenierungen“ in denen es sich erkennen kann.‘
– „Und was meinen Sie dazu, Herr Regisseur?“ – „Meine Aufgabe ist es, die Intentionen und Aussagen des Werks, so wie es bei der Uraufführung war, für ein heutiges Publikum zu transponieren. Das ist oft sehr viel schwieriger als Sie sich vorstellen können, da unsere heutige „Brille“, mit der wir eine Oper sehen und hören, eine ganz andere ist als die des damaligen Publikums. Zum Beispiel wurden „Carmen“ und „Don Giovanni“ uraufgeführt als „opéra-comique“ und als „dramma giocoso“, also als vergnügliche Lustspiele, wo das Publikum über beide Bösewichte geschmunzelt hat, die die bürgerliche Ordnung in Gefahr brachten und deswegen logischerweise „ausgeschaltet“ wurden. Doch heute sehen wir in ihnen tragische Figuren, die die aktuellen Themen Selbstentfaltung, Emanzipation und sexuelle Freiheit symbolisieren, und so sind sie von Bösewichten zu Sympathieträgern mutiert. Das führt dazu, dass heutzutage immer mehr Regisseure engagiert werden, die aus der ich/heute-Perspektive inszenieren, meist auch, weil sie nicht die nötige Bildung hätten, um historische Dokumente und eine Orchesterpartitur zu lesen (böser Blick an beide Intendanten). Aber ich verspreche Ihnen, wenn eines Tages die historische Inszenierung von „Carmen“ oder „Don Giovanni“ wieder aufgenommen würde – denn technisch wäre dies möglich –, werde ich sicher dorthin fahren und darüber berichten.“ 25 Jahre später wurde nun dieser alte Wunsch erfüllt…
Die Rekonstruktion der Uraufführung von „Carmen“ ist ein Projekt des künstlerischen Direktors des schon häufig erwähnten Palazzetto Bru Zane, Alexandre Dratwicki. Da diese Stiftung sich schon seit 15 Jahren erfolgreich für die historisch korrekte Wiederaufnahme französischer Opern des 19. Jahrhunderts einsetzt (im Juni noch mit unbekannten Komponistinnen), stellte sich logischerweise die Frage einer auch szenischen Rekonstruktion. Denn das ganze Material ist da – nicht nur für „Carmen“ – und schlummert in Archiven und Bibliotheken in einer Masse und Vielfalt, die man sich im Ausland gar nicht vorstellen kann. Alles wurde liebevoll bewahrt: riesige Archive mit Partituren und Briefen von Komponisten & Librettisten, wo viele bis heute (!) nie richtig eingesehen und studiert worden sind – so hatte ich vor kurzem in der Bibliothèque de l’Opéra tausend Seiten Korrespondenz in Händen eines Librettisten von Offenbach und Gounod, die dort immer noch ungelesen schlummern (genau aus der Zeit von „Carmen“!). Dazu nicht nur die originellen Skizzen von Bühnenbildern und Kostümen, sondern im Centre National du Costume de Scène über 10.000 historische Kostüme (!) und (Fragmente) der Bühnenausstattungen der Pariser Oper und der Comédie Française. Dort auch zwei Kostüme der Uraufführung von „Carmen“ aus 1875. Über die Regie sind wir ebenfalls genaustens informiert, durch das „livret de mise en scène“. Dies schlummert in der Bibliothèque historique de la ville de Paris – übrigens ein bildschöner Ort gegenüber dem Musée Carnavalet – mit 2.700 anderen Regiebüchern von damaligen Operninszenierungen und 3.000 Regiebüchern aus den Parisern Theatern. Mit Hilfe des Palazzetto Bru Zane wurden diese 5.700 (!) dicke Bücher alle digitalisiert und sind nun zugänglich auf der Bru Zane Mediabase. Das war insgesamt zehn Jahre Vorlauf. Erst einmal alle Achtung hierfür!
Der erste Vorstoß einer auch szenischen Rekonstruktion war vor zwei Jahren die Version „ante prima“ von Offenbachs „La Vie parsienne“, auch in Rouen, in einer semi-historischen Inszenierung des Modeschöpfers Christian Lacroix (sein Regiedebüt!): quasi historische Kostüme in einem modern nachempfundenen Bühnenbild. Ein Riesen-Erfolg (wir haben darüber berichtet) und zwei Jahre später reist diese Produktion immer noch durch die Welt, inzwischen schon durch ein Dutzend Opernhäuser. Lacroix gab das darauffolgende „Carmen“-Regieangebot an seinen damaligen Assistenten Romain Gilbert weiter, der bis heute mit der „Vie parsienne“ herumreist und inzwischen auch eigene Wege geht. Jetzt ist alles historisch (so weit wie möglich): Bühne, Kostüme, Beleuchtung und „Inszenierung‘. In den Regiebüchern stehen nur die Auf- und Abgänge, sowie die Positionen auf der Bühne, die Personen-Regie & Choreographie sind also von Gilbert & seinem Team. Musikalisch wurde leider nicht die genaue Fassung der Uraufführung des 3. März 1875 an der Pariser Opéra Comique gespielt, also als „opéra-comique“ mit gesprochenen Dialogen, sondern die Fassung mit gesungenen Rezitativen, die Ernest Giraud komponierte für die Erstaufführung an der Wiener Hofoper (jetzt Staatsoper) am 23. Oktober 1875. Giraud tat dies im Sinne des Komponisten, der den Vertrag mit Wien noch im Mai unterschrieben hatte, bevor er am 3. Juni plötzlich verstarb. Dazu noch dieses: die weit verbreitete Geschichte – Tschaikowsky schreibt dies schon 1880 in seinen Briefen –, dass die Uraufführung von „Carmen“ ein Misserfolg gewesen wäre, der Georges Bizet so hart getroffen hätte, dass dieser kaum drei Monate später verstarb oder sich das Leben nahm, ist historisch nicht haltbar. Man braucht sich nur die oben erwähnten Dokumente anzusehen: die Premiere war vielleicht nicht die beste Vorstellung, aber das lag an den sehr langen Umbauten (vier völlig neue Bühnenbilder), weswegen der vierte Akt erst nach Mitternacht begann und manche Personen im Publikum zu ihren letzten Zügen eilen mussten. Am 3. Juni war der Vertrag mit Wien schon unterschrieben und spielte schon die 33. Vorstellung von „Carmen“ – Bizets vorige Oper „Djamileh“ wurde 1872 nach nur 9 Vorstellungen abgesetzt. Dass „Carmen“ ein Erfolg werden würde, war schon abzusehen – auch wenn niemand sich damals vorstellen konnte, dass sie das meist gespielte Werk an der Opéra Comique werden würde (über 3000 Vorstellungen bis 1940) und vielleicht in der ganzen Welt. Bizet, eigentlich ein bärenstarker Mann, aber mit schwachen Lungen, verstarb an einer heftigen Angina, weil er in Bougival in der kalten Seine geschwommen hatte. Nicht während der Schicksals-Karten-Arie des 3. Aktes von „Carmen“, auch wenn die Zahl 3 bei seinem Tod sehr oft vorkommt: genau 3 Monate nach der Uraufführung, am 3. Juni (sein Hochzeitstag), bei der 33. Vorstellung, 36 Jahre alt (3 + 2 x 3).
So sieht eine historische Inszenierung aus:
Die erste Überraschung war, dass bei allen Vorspielen der Vorhang geschlossen blieb. Das fand ich wunderbar, denn so konnte man sich auf die Musik konzentrieren, wo die verschiedenen „spanischen Motive“ schon angekündigt wurden. Bei der Öffnung des Vorhangs ging dann jedes Mal ein „Ah“ durch das Publikum: was für ein „pittoreskes“ Bühnenbild – schön wie ein Gemälde. Links die Kaserne, rechts die Tabakfabrik und im Hintergrund der Turm der Kathedrale von Sevilla. Der Platz wurde nun bevölkert durch die „drôles de gens“, die seltsamen Leute des Eröffnungschores: Verkäufer, Tänzer, Banditen – wie man sich damals in Paris Andalusien vorstellte, ein fernes Land, so wie in den anderen orientalischen Opern von Bizet („Die Perlenfischer“, „Djamileh“ etc), zu denen man „Carmen“ eigentlich zählen kann. Es wird getanzt und es gibt bei der zweiten Arie von Moralès, der erste Solist & Soldat der singt (Yoann Dubruque, sehr gut), eine durch ihn kommentierte Pantomime „der alte Herr und die junge Dame“ (und ihr junger Liebhaber, der ihr einen Brief überreicht) – ganz im Stil einer fröhlich-frechen „opéra-comique“. Damit fängt der Unterschied zu den heutigen Inszenierungen schon an: diese Pantomime habe ich öfters in Paris an der Opéra Comique und an der Oper gesehen, aber noch nie im Ausland, weil dort seit 1875 zu 95% die gekürzte Fassung mit gesungenen Rezitativen von Ernest Giraud gespielt wird (der Grund weswegen man jetzt auch diese Fassung wählte), wo auch noch vieles Anderes wegfiel. Auch in Fritz Oesers „historischer Fassung“ an der Komischen Oper in Berlin (1964) kommt diese Pantomime nicht vor. So könnte man unzählige Beispiele aufzählen, wie mit vielen kleinen Schnitten im Ausland aus „Carmen“ eine „Oper“ und ab 1907 sogar eine „romantische Oper“ gemacht wurde (so wie es in den Partituren steht) – oft weit entfernt vom originellen Sing- und Lustspiel.
Mitten in diesem fröhlichen Treiben erscheint Carmen mit einer Akazienblume (so wie es im Libretto steht), wunderbar gespielt und gesungen von Deepa Johnny – unglaublich, dass sie erst 26 Jahre alt ist und in dieser Rolle nun debütiert. Don José wurde bei der Premiere in Rouen durch Thomas Atkins gesungen (anscheinend ganz wunderbar), doch am gleichen Tag wurde bei ihm eine schwierige Krankheit diagnostiziert und musste er leider absagen. Stanislas de Barbeyrac sprang ein, doch war an dieser letzten Vorstellung verhindert und wurde kurzfristig durch David Butt Philip ersetzt, der von der Seitenbühne sang, während der Regisseur Romain Gilbert die Rolle mimte. So konnten wir genau ermessen, wie er sich Don José vorstellte: als berührend hilfloses Mammasöhnchen, der sich in der großen Stadt nach seinem Dorf zurücksehnt, wo seine Mutter auf ihn wartet und seine Hochzeit mit Micaëla vorbereitet. (Das steht alles ganz genau in ihrem Brief im ursprünglichen Libretto, doch der auch hier nicht auf der Bühne vorgelesen wurde.) Micaëla kommt in der Novelle von Prosper Mérimée gar nicht vor und wurde durch die Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy erfunden, um dem damals sittlich besorgten Publikum der Opéra Comique eine Identifikationsfigur zu geben (Iulia Maria Dan sang sie sehr schön). Die keusche Verlobungsszene wird durch Carmen unterbrochen, die am Ende des Aktes entweicht und frech ihre Fesseln den Soldaten zuwirft. Das Schlussbild „friert ein“ beim Niedergang des Vorhangs, der noch einmal für den Applaus hochfährt (siehe Foto, die Fessel ist offensichtlich mit Draht verstärkt). Das nannte man damals „faire un tableau“ – ein Bild stellen. So sind auch die nächsten drei Akte aufgebaut & inszeniert: Eröffnungschor, Tänze, Pantomime, Schlussbild. Mit als „letzter Steigerung“ der Einmarsch der Banderillos, Picadores und Stierkämpfer, denen Carmen am Arm von Escamillo (Nicolas Courjal) folgt – er kommt auch nicht bei Mérimée vor, sondern wurde durch die Librettisten Meilhac & Halévy erfunden als spanisches Kolorit und identifizierbare Hauptfigur. Die „entrée“ wurde so zur „Farbenorgie“ (fantastische Kostüme von Christian Lacroix!) wie durch Bizet & sein Team angedacht. Am Ende bleiben Carmen und Don José alleine übrig und ersticht er sie in dieser etwas affektierten Pose (siehe Foto), während Escamillo tatenlos zuschaut (in vielen modernen Inszenierungen stirbt er auch, aber das war ursprünglich nicht der Fall.) Applaus.
Was halten Sie davon?
Auf diese Frage bekam oder las ich die meist verschiedenen Antworten. Das Publikum in Rouen war einhellig begeistert: alle 6 Vorstellungen waren ausverkauft und dazu gab es noch eine Live-Übertragung auf einer riesigen Leinwand vor der Kathedrale und in 25 anderen Städten der Normandie, zu der über 60.000 Besucher an einem Abend kamen. Und was mich besonders erfreute: in der durch mich besuchten Vorstellung war ungefähr die Hälfte des Publikums weniger als 30 Jahre alt. Mehrere Jugendliche hatten sich sogar für diese historische Vorstellung in alte Kleider geworfen: mit Hut, Krawatte, Smoking, Anzug, langem Kleid etc. Dies widerlegt eindeutig die seit 25 Jahren erhobene Behauptung (siehe oben), dass man Jugendliche nur noch in die Oper locken könnte mit „heutigen“ Inszenierungen. Das Publikum war begeistert, die Rezensenten zwiespältig: die deutschsprachige Presse einträchtig verhalten bis sehr negativ, die französischsprachige Presse einstimmig positiv bis begeistert. Exemplarisch dafür, warum unsere persönliche Meinung in erster Stelle geformt wird durch die „Brille“ die wir alle tragen (obwohl wir uns dessen oft gar nicht bewusst sind). Es reisten sechs Journalisten aus Deutschland ganz bis nach Rouen – was an sich schon mal ein (Be-)Achtungserfolg ist. Nur der Korrespondent der FAZ kam aus Paris und schrieb die meist milde und historisch informierte Kritik –wahrscheinlich, weil er schon seit Jahren in Paris lebt und der französische Umgang mit Oper und Geschichte auf ihn abgefärbt hat (so wie auf mich). Das ist nämlich ein ganz anderer als in Deutschland und dieser lässt sich genauso wenig mit wenigen Worten erklären, als warum ein Franzose im Schnitt doppelt so viel für seine Nahrung ausgibt als ein Deutscher oder warum die Menschen auf der Straße in Paris meist anders angezogen sind als in Berlin. In den deutschen Rezensionen las ich Worte wie „süffig“, „hübsch nostalgisch“, „Rampentheater“, in den französischen „stilvoll“, „geschmackvoll“, „amüsant“ und auch „Revolutionär! Der Komponist hat recht – nicht der Regisseur!“, „Gegenbeispiel zum exzessiv gewordenen Modernismus der heutigen Opernregie“ (in Le Figaro, der größten französischen Tageszeitung) – wobei wir wieder bei der Diskussion von vor 25 Jahren im Louvre angelangt wären. Nun kann diese endlich sinnvoll geführt werden, weil man diese „Carmen“ nun im Internet sehen kann (Link unten) und bald wieder auf der Bühne. Mehrere französische Rezensionen endeten mit: „bon voyage“ – Gute Reise. Denn diese „Carmen“ soll nun durch die Welt reisen. Geplant ist schon die Oper in Versailles Anfang 2025 und dann eine große Tournee zum 150en Geburtstag von „Carmen“ bis nach Hongkong, Shanghai, Seoul und weiter in die U.S.A. Deutschland wird nach diesen Rezensionen wohl eher nicht auf der Reiseroute stehen, aber wer weiß, vielleicht Wien? Denn der junge Dirigent dieser Produktion, Ben Glassberg (Pardon, dass ich so wenig auf ihn und die musikalische Seite eingegangen bin), mit dem ich kurz nach der Aufführung sprach, war absolut begeistert und wird demnächst der neue Musikdirektor der Volksoper in Wien. Bis dahin kann man sich selbst Dank Internet schon eine Meinung dazu machen. Was finden Sie davon?
Waldemar Kamer 9. Oktober 2023
Carmen
Georges Bizet
Opéra de Rouen Normandie
Besuchte Vorstellung: 3. Oktober 2023
Musikalische Leitung: Ben Glassberg
Orchestre de l‘Opéra de Rouen Normandie
Das historische Regiebuch und anderes Material: www.bruzanemediabase.com
Link zur Live-Übertragung (die Oper fängt nach der Präsentation bei Minute 56.34 an)