Kaiserslautern: „Die tote Stadt“, Erich Wolfgang Korngold

© Andreas J. Etter

Es ist eine zeitlose Frage, die der damals 23jährige Erich Wolfgang Korngold in seiner Oper „Die tote Stadt“ in berauschende Klänge kleidete. 1920 zeitgleich in Hamburg und Köln uraufgeführt, verdankte sie ihren anfänglichen Erfolg nicht lediglich den beiden veritablen „Hits“ „Glück, das mir verblieb“ und „Mein Sehnen, mein Wähnen“. Sie traf auf eine Gesellschaft, in der in vielen Familien Tote des Weltkriegs betrauert wurden. In der Toten Stadt wird die Trauer um den Verlust einer idealisierten großen Liebe mit dem sterbenden Brügge assoziiert. Die Erinnerung an sie zelebriert der Protagonist inmitten der spukhaften Atmosphäre der einst stolzen Handelsmetropole, die in der Erinnerung lebt und deren nebelverhangene Kanäle versandet sind. Die düstere Ausstrahlung Brügges korrespondiert mit den Seelenzuständen des trauernden Mannes. Beginen, die gespensterhaft durch die Straßen huschen und eine Fronleichnamsprozession prägen die spirituelle Atmosphäre der Stadt. Sie verstärken die Zerrissenheit des Mannes zwischen der Treue zu seiner verstorbenen Frau und seinem Begehren. Die Stadt spiegelt das Innerste der Hauptperson. Er ist nicht in der Lage, ihr zu entrinnen. In scharfem Kontrast dazu bricht eine Schauspielergruppe um die lebenslustige Marietta in die düstere Stimmung ein.

Das theaterwirksame Textbuch hatte Erich Wolfgang Korngold gemeinsam unter dem Pseudonym Paul Schott mit seinem Vater Julius auf der Grundlage des Romans „Das tote Brügge“ des belgischen Autors Georges Rodenbach verfasst. Es war 1903 erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht worden und gilt als Schlüsselwerk des Symbolismus. Das Sujet lernte der Komponist durch den österreichischen Dramatiker Siegfried Trebitsch kennen. Er machte Korngold 1916 auf die durch ihn übersetzte Bühnenfassung unter dem deutschen Titel „Das Trugbild“ aufmerksam. Die Romanvorlage um den Witwer, dessen Trauer sich mit der morbiden Atmosphäre Brügges verbindet, erweiterten Vater und Sohn Korngold durch eine Rahmenhandlung. Unter Einbeziehung der seit der Jahrhundertwende durch Siegmund Freud begründeten Traumdeutung fügten sie dem Werk eine wichtige Dimension hinzu, die ihm eine tiefere Bedeutung verleiht. Sie verlegten das Geschehen in einen Traum, der die Erfüllung des unerfüllbaren Wunsches ermöglicht, aber zugleich auch die zerstörerische Konsequenz vermittelt.

Der Protagonist Paul zelebriert das Andenken an seine Frau Marie in einer aus Erinnerungsstücken eingerichteten „Kirche des Gewesenen“, deren wichtigste Reliquie eine Haarflechte Maries ist. Als ihm im Nebel der Kanäle eine Tänzerin begegnet, in der er Marie wiedererkennen will, geht er mit ihr eine verhängnisvolle Beziehung ein, in deren Verlauf er zwischen Schuldgefühlen und sexuellem Begehren zerrissen wird. Die Besessenheit, die lebensfrohe Marietta seinem tugendhaft verklärten Idealbild anzugleichen, endet in der Katastrophe. Als sie sich der Manipulation entzieht, erdrosselt sie Paul mit der Haarflechte seiner Marie. Erst im Tod gleicht sie ihr ganz. Abweichend von der literarischen Vorlage Rodenbachs erwacht Paul und erkennt, dass es ein Traum war, der eine Katharsis bewirkt hat. Er akzeptiert, dass er die Vergangenheit nicht wiederbeleben kann. Ob es ihm gelingt, gemeinsam mit seinem Freund Frank die tote Stadt zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen, wie es der Text nahelegt, aber die Musik verneint, bleibt in der Schwebe und offen für verschiedene Interpretationen.

Regisseur Tomo Sugao verlegt die komplette Handlung in den Kopf des Protagonisten, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird. Dabei verzichtet er auf einen zentralen Bezug des Werkes: die Wechselwirkung zwischen dem morbiden Charakter der Stadt und der inneren Verfassung des sich in seiner Trauer verlierenden Mannes. Vielmehr interessiert ihn die Frage, wie Menschen mit heutigen technischen Möglichkeiten auf den Verlust geliebter Partner reagieren. Die gesamte Handlung findet in einer albtraumhaften Fantasiewelt statt, die mit Versatzstücken der letzten hundert Jahre – vom Grammophon zum Computer – ausgestattet ist. Die handelnden Personen existieren nicht wirklich, sondern entspringen seiner Fantasie, in der er sich in dem Bestreben, Marie wieder zum Leben zu erwecken, zunehmend verliert. Wenn die gesamte Handlung eine Imagination ist, büßen der Wechsel von der Wirklichkeit in den Traum und das Erwachen und Erkennen ihre Bedeutung ein. Offen bleibt, ob Paul sich am Ende, aus dem selbst geschaffenen Gefängnis befreien kann.

Die Abkehr von der melancholischen Grundstimmung und dem Geist des Fin de siecle irritiert bereits, während der ersten Takte der kurzen Orchestereinleitung, als Pauls Freund Frank in weißem Anzug mit Zylinder wie ein Conférencier der zwanziger Jahre (oder Bajazzo) den Vorhang öffnet. Während der Handlung erscheint er hin und wieder gestisch kommentierend oder die Handlung vorantreibend.

Der für die Ausstattung sowie die Bild- und Videobearbeitung mit KI verantwortliche Hank Irwin Kittel verzichtet auf jede Anspielung auf den Ort der Erzählung. Er symbolisiert die Abschottung Pauls, der nicht mehr in der Lage ist, mit realen Menschen zu kommunizieren, durch eine runde Ziegelmauer, die einen klaustrophobisch wirkenden Innenraum umschließt, dessen Innenwände verspiegelt sind. Kurzzeitig öffnen sich die Wände für den Auftritt der seiner Fantasie entspringenden Personen. Im Zentrum befindet sich ein Labor. Auf einem Bett liegt eine lebensgroße Puppe. Perücken sind auf einem Regal und dem Schreibtisch mit Computer angeordnet. Sparsam und sinnvoll eingesetzte Videosequenzen setzen Akzente, visualisieren Erinnerungen und Wünsche. Sugao und Kittel mischen die Ästhetik der Entstehungszeit der Oper mit den technischen Werkzeugen der Gegenwart und einer dystopischen Zukunft. Während die Kleidung zeitlich nicht zuzuordnen ist, arbeitet Paul im Ersten Akt mit den Mitteln der Virtuellen Realität und Künstlichen Intelligenz daran, sein Idealbild zu erschaffen. Der idealisierten Marie nach dem Vorbild einer „heiligen Elisabeth“ fügt er Züge einer sinnlichen „Venus“ hinzu. Die von Paul in seinem Labor erschaffene Marietta tritt als Androide wie bei der Erschaffung des Maschinenmenschen, der „falschen Maria“, aus Fritz Langs Metropolis, aus einer Maschinerie heraus. Paul passt sie seiner Erinnerung an Marie an, indem er sie mit den Kleidern und der Perücke seiner verstorbenen Frau ausstaffiert. Das programmierte Wunschbild lässt sich allerdings mit der Realität nicht vereinen. Es gleicht äußerlich Marie, entwickelt aber als Tänzerin Marietta eine eigene Persönlichkeit, der sowohl sein Freund Frank als auch der Pierrot der Schauspielertruppe – beides Imaginationen einer Person – verfallen.

Die beabsichtigten Anachronismen der Traumwelt erscheinen nicht immer schlüssig. So tönt die Stimme der Marie aus einem Grammophon, während Paul offensichtlich über ein soziales Netzwerk mit ihr kommuniziert. Das Haar Maries ist die zentrale Reliquie der kultischen Verehrung durch Paul. Zu einem gewaltigen Zopf geflochten beherrscht es das Bühnenbild des dritten Akts und assoziiert die Doppelhelix eines DNA-Strangs. Als Marietta sich seinem Schöpfer Paul widersetzt und die Reliquie tanzend „entweiht“, erwürgt er sie. Der Ansatz der Regie, die „Wiederbelebung“ der Marie durch Reproduktionsmedizin und Künstliche Intelligenz zu materialisieren, lässt sich begründen und nachvollziehen. Er bewahrt aber die Inszenierung nicht vor einem Absturz in peinliche Vulgarität, als zum Ende des Ersten Aktes der vor dem Computer masturbierende Paul von Klonen der Marie umtanzt wird und mit einer Sex Puppe agiert.

Mit der Abstrahierung der Beziehung des Protagonisten zu Brügge und seiner Verwurzelung in den ihm dort umgebenden Katholizismus verliert das Werk seine spirituelle Dimension. Die in Text und Musik plastisch herausgearbeiteten Gewissensqualen und die Zerrissenheit Pauls können so auf der Bühne nicht glaubhaft vermittelt werden. Für die durch Paul als Blasphemie empfundene frivole Nachstellung der Auferstehungsszene aus „Robert der Teufel“ werfen sich die Schauspieler lediglich einige Laken über. Eine bereichernde Interpretation ist hingegen die Darstellung der Fronleichnamsprozession als Projektion Pauls. Es sind identische Verkörperungen der Marie, die an Maria mit dem Kind erinnern, denen sich Marietta entzieht.

„Die tote Stadt“ stellt an jede Bühne hohe Anforderungen. Sie erfordert drei bis vier Sängerschauspieler, die sich in dem komplexen Orchesterklang, der durch Glocken, Windmaschine und Orgel erweitert wird, behaupten können. Die perfekte Abstimmung zwischen Orchestergraben und Bühne ist eine Herausforderung. Die vom Komponisten mit jugendlichem Schwung komponierten Klangballungen verleiten dazu, Sängerinnen und Sänger zum Dauerforte zu zwingen. Generalmusikdirektor Daniele Squeo gelingt es hingegen, eine perfekte Balance zwischen der Pfalzphilharmonie und der Bühne herzustellen. Dem für Korngold charakteristischen Mischklang setzt er eine eher analytische Lesart und transparenten Klang entgegen. Das Orchester musiziert spannungsreich und treibt die Handlung voran.

Es heißt, dass für die Rolle des Paul eigentlich zwei Tenöre benötigt würden – einen lyrischen und einen Heldentenor. Patrick Cook als Gast in der Rolle des Paul brilliert in den lyrischen Szenen. Wirkte er bei den hochdramatischen Szenen anfangs etwas angestrengt, steigerte er sich Laufe des Abends und überzeugte im „Glocken-Monolog“ und in der Schlussszene des zweiten Aktes, der mit seinen Stimmungswechseln und Anklängen an den Tristan in besonderer Weise herausfordernd ist. Beeindruckend sind die aus dem eigenen Ensemble besetzten Rollen, die von der Leistungsfähigkeit des Pfalztheaters zeugen. Arminia Friebe als Marietta und Erscheinung Maries gestaltete ein facettenreiches Porträt in allen Gegensätzen zwischen der Erinnerung an die vergötterte Gattin und der verführerischen Tänzerin. Darstellerisch und mit ihrem absolut höhensicheren und mit warmen Sopran beherrschte sie die Bühne. Im „Glück, das mir verblieb“, harmonierte sie perfekt mit Patrick Cook. Selten hat man den Monolog am Beginn des dritten Aktes („Dich such ich, Bild! Mit dir hab ich zu reden!“) derart einfühlsam und textverständlich gehört. Sie ist eine Idealbesetzung, die schon allein den Besuch der Oper lohnt. Hyunkyum Kim in der Doppelrolle als Frank und Pierrot stand ihr nicht nach. Mit kultiviertem Bariton stattete er die Rolle aus, der in die Handlung einführt und sich vom Freund zum Konkurrenten des trauernden Witwers entwickelt. Als Teil der gut aufeinander abgestimmten Schauspielertruppe ragte seine Interpretation von „Mein Sehnen, mein Wähnen“ heraus und beglaubigte das Hitpotential der Baritonarie. Aus den Regieranweisungen als befremdlich aufgedrehtem Maître de plaisir machte er das Beste. Anrührend verkörperte Judita Nagyova die Haushälterin Brigitta im Dialog mit Frank („Was das Leben ist, weiß ich nicht.“) und als Pauls schlechtes Gewissen.

Es ist erfreulich, dass die seinerzeit erfolgreichste Oper Erich Wolfgang Korngolds nach Jahrzehnten der Verfemung, Abwertung und des Vergessens inzwischen wieder einen festen Platz in den Spielplänen der Theater gefunden hat. Bereits vor 15 Jahren hatte sich das Pfalztheater in Kooperation mit dem Nationaltheater Brünn an das „Wunder der Heliane“ gewagt, das Korngold für sein Hauptwerk hielt. Wie Regisseur Johannes Reitmeier bei seiner damaligen Inszenierung des surrealen Mysterienspiels, ließ sich auch Tomo Sugao für die Tote Stadt von der Bildsprache in Fritz Langs „Metropolis“ inspirieren.

Es ist schmerzhaft, dass die Inszenierung der glücklicherweise nicht mehr so selten aufgeführten Toten Stadt durch das Pfalztheater bisher kaum auf die gebührende Resonanz gestoßen ist. Der schöne, 1995 auf dem Gelände der einstigen Kaiserpfalz eröffnete Neubau mit seinen 680 Plätzen war bei der zweiten Vorstellung vielleicht zu einem Viertel gefüllt. Außer in der regionalen Presse wurde über die Premiere kaum berichtet. Der Leistung der Künstler und Akteure hinter der Bühne wird dies nicht gerecht und es bleibt zu hoffen, dass es nicht demotiviert. Zu den Einschränkungen der Corona-Maßnahmen musste das Große Haus mit erheblichem Aufwand die Folgen eines Wasserschadens vom Dezember 2022 überwinden. Nach einer letzten Aufführung in dieser Spielzeit am 11. Juli wird die tote Stadt in der kommenden Spielzeit in vier Vorstellungen in Kaiserslautern im IV. Quartal 2025 sowie zwei Aufführungen im Januar 2026 im Pfalzbau Ludwigshafen zu erleben sein. Bis dahin sollte sich herumsprechen, dass ein Besuch lohnt.

Michael Rudloff 12. Juli 2025


Die tote Stadt
Erich Wolfgang Korngold
Pfalztheater Kaiserslautern:

26. Juni 2025

Regisseur Tomo Sugao
Dirigat: Daniele Squeo
Philharmonie Kaiserslautern