Mit zwei Selbst-Therapien Robert Schumanns konfrontierte uns die Matinee des 3. Symphoniekonzertes der Sächsischen Staatskapelle am 10. November 2024 in der Dresdner Semperoper.
Zum Auftakt gab es erstmal das Kennenlernen der finnischen Komponistin Kaija Saariaho (1952-2023) mit ihrem „Ciel d’hiver“ (Winterhimmel). Kaija Saariaho (1952-2023) gehört zu den wenigen zeitgenössischen Tonschöpferinnen, deren Werke nicht nur von der Fachwelt als wichtig anerkannt werden, sondern deren Musik trotz oder wegen ihrer Eigenwilligkeit auch bei einem breiten Publikum Anerkennung findet. Mit ihrer von Träumen, magischen Klängen und Mythen durchzogenen Musik ist diese bei Symphonieorchestern, Kammerformationen, Instrumentalsolisten und Opernensembles im Musikbetrieb angekommen.
Mit ihrem „Ciel d’hiver“ erinnerte die Komponistin an die wunderbaren Veränderungen des Lichts in den langen Winternächten ihrer finnischen Heimat. Das Stück ist Saariahos Orchesterwerk „Orion“ aus dem Jahre 2002 entnommen und faszinierte mit den vielfältigen Abstufungen der Farben, seiner Dynamik, der Artikulation sowie der Rhythmen. Daniele Gatti gestaltete den Anfang seiner Interpretation kalt und durchsichtig. Über einem Bett von Streichern, Harfe und Schlagzeug legten eine Piccoloflöte, eine Solovioline sowie eine Klarinette die Sicht auf einen klaren Sternenhimmel. Fast zögerlich übernahmen Holz- und Blechbläserblöcke das Geschehen, um die Klangfarben zu ändern. In der Folge ließ Gatti hohe mit tiefen Klangmassen im scharfen Kontrast wechseln und bewegte so das Klangbild zwischen Stratosphäre und Abgrund. Abschließend bestimmten die Weite und Tiefe des finnischen Winters mit seiner beißenden, klaren Kälte den Eindruck der Komposition.
Im März des kommenden Jahres wird mit der Oper „Innoccence“ in einer Inszenierung von Lorenzo Fioroni in der Semperoper ein breiterer Eindruck des Schaffens der Kaija Saariaho zu erleben sein.
Der Violinvirtuose Joseph Joachim (1831-1907) schickte im Juni des Jahres 1853 Robert Schumann eine Partitur von Beethovens D-Dur Violinkonzert mit der Anmerkung, Schumann möge doch, „als Hüter reichster Schätze, den armen Violinspielern ebenfalls ein derart erhebendes Werk aus seinem tiefen Schacht ziehen“. Der geschmeichelte Schumann schuf fast unmittelbar in der Folge mit einer „Fantasie für Violine und Orchester“ sein op. 131 und schloss ohne zu zögern den Entwurf eines „Concertes für Violine“ an. Anfang Oktober 1853 instrumentierte er das konzipierte Konzert und schickte die Partitur in der Mitte des Monats an Joseph Joachim. Bereits für den 27. Oktober 1853 plante Schumann eine Uraufführung des Werkes. Zerwürfnisse mit dem Düsseldorfer Konzertkomitee läuteten mit der Verhinderung dieser Uraufführung ein für uns heute wirr erscheinendes Schicksal des Schumann´schen „Violinkonzerts d-Moll op. Posthum“ ein: Schumann befand sich bereits in der Heilanstalt Endenich, als es im Januar 1854 unter Joachims Leitung mit der Hannoveraner Hofkapelle zu einer Konzertprobe des Violinkonzertes kam. Die zum Werk übermittelten Einschätzungen der Beteiligten waren widersprüchlich. Nur die Anmerkungen Joachims, dem das Stück gewidmet war, bezüglich der technischen Herausforderungen für den Solisten im Finalsatz sind eindeutig überliefert. Obwohl sich Clara Schumann und Joseph Joachim anfangs für das Violinkonzert begeisterten, müssen ihre späteren Vorbehalte im Zusammenhang mit dem Umstand gesehen werden, dass Schumanns Spätwerk zunehmend seiner psychischen Erkrankung zugeordnet wurde. Um das Ruhmesbild des verehrten Meisters zu beschützen, wurde auf Betreiben der Witwe Clara und Joseph Joachims, Johannes Brahms hatte offenbar auch die Hand im Spiel, Schumanns letztes Orchesterwerk nicht in die erste Schumann-Gesamtausgabe aufgenommen. Deshalb erscheint das Violinkonzert in der aktuellen „Robert-Schumann-Gesamtausgabe“ als „Violinkonzert d-Moll WoO 1 (Werk ohne Opus).
Das Autograph des Violinkonzertes hatte Joachim an sich genommen und 1907 seinem Sohn Johannes (1864-1949) mit dem gesamten Notenmaterial vererbt. Mit der Auflage, dass das Violinkonzert frühestens 1956, also einhundert Jahre nach Schumanns Tod, veröffentlicht werden darf, ging das Autograph in den Besitz der Preußischen Nationalbibliothek über. Auslöser für das Unterlaufen dieser Sperrfrist seien zwei in England lebende Großnichten Joachims gewesen. Sie hätten in einer spiritistischen Sitzung von den Geistern Schumanns und Joachims den Auftrag erhalten, das Werk aufzuspüren und aufführen zu lassen. Es sind aber offensichtlich andere Beziehungen und wirksamere Mächte gewesen, die Johannes Joachim 1936 zur Erteilung der Publikationsfreigabe veranlassten. Denn, getrieben von der nationalsozialistischen Kulturpolitik wurde das Werk im Jahre 1937 im Rahmen einer Propagandaveranstaltung mit einer drastisch bearbeiteten Fassung des Soloparts uraufgeführt. Das Schumann-Konzert sollte das als Bindeglied zwischen den Violinkonzerten Beethovens (1770-1827) und Brahms (1833-1897) geltende e-Moll-Violinkonzert des jüdischen Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) ersetzen. Diese Umstände waren der Verbreitung des Schumann´schen Konzertes nach Beendigung des zweiten Weltkrieges naturgemäß nicht förderlich. Nur wenige Geigensolisten hatten es in ihrem Repertoire und in unserem ersten Konzertbuch aus den 1950-er Jahren ist ihm nur eine Fußnote gewidmet. Natürlich hat auch die etwas sperrige Struktur des Konzertes seine Verbreitung verzögert, kann es doch seine Herkunft aus einer Schaffenskrise Schumanns nicht verleugnen. Die düstere Ausdruckshaltung des Werkes, hinter der nur gelegentlich eine fröhliche Stimmung hervorschaut, hat in der Betrachtung die Schönheit der gedeckten Farben überdeckt und Interpreten regelrecht abgeschreckt. Die Motivarmut, die vielen Wiederholungen und die Vernachlässigung des Orchesters erfordern eine intensive Beschäftigung mit dem Werk. Deshalb hat erst die eindringlichere Behandlung des Spätwerkes Schumanns gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts sein Violinkonzert häufiger auf die Konzertpodien gebracht.
Für Frank Peter Zimmermann schien die Frage nach einer effektsicheren Interpretation des Schumann-Violinkonzertes zweitrangig zu sein. Sein Anspruch, mit dem Charakter des Konzertes gestalterisch umzugehen und das Werk, das die Klangmöglichkeiten seiner „Lady Inchiquin“ eher zurückhaltend benötigte, stand im Vordergrund seiner Darbietung. Anstelle virtuoser Effekte nutzte er die gedeckten Farben der Partitur, den Ernst hinter der fröhlichen Stimmung zu sichern. Zimmermanns Gespür für weite Melodienbögen, für die überraschenden Wechsel von Rhythmus und Geschwindigkeit sowie den abgedunkelten Schumann-Klang brachte dem Konzert seine außergewöhnliche Wirkung.
Schumann hatte im Kopfsatz den Solisten und das Orchester überwiegend blockhaft gegenüber gestellt. Orchester und die oft in tiefer Lage geführte Solovioline tauschten mehrfach die melodische Führung mit der Begleitung. Daniele Gatti hatte sich folgerichtig für eine kammermusikalisch geprägte Orchester-Partnerschaft entschieden. Die großen Tutti-Passagen im ersten Satz blieben deshalb zurückhaltend und Zimmermanns makellose Technik konnte die verschattete Stimmung voll zur Geltung bringen. Er ließ sich vom Orchester nicht begleiten sondern suchte den Dialog.
Den Mittelsatz bestimmten die tiefe Empfindsamkeit und die innere Spannung der Komposition. Nach der von Daniele Gatti zurückhaltenden Eröffnung verkettete sich der Solist regelrecht mit dem Orchester und befreite sich erst mit Schumanns Erinnerung an seine wunderbare „Frühlingsankunft“ aus der Umarmung. Im unmittelbar angeschlossenen Rondo zeigte Zimmermann seine Meisterschaft in der geschickten Wahl der Tempi, so dass auch der dritte Satz zum Erlebnis wurde.
Für den reichen Beifall des Publikums bedankte sich Frank Peter Zimmermann mit Johann Sebastian Bachs „Adagio C-Dur“.
In der zweiten Konzerthälfte folgte Robert Schumanns „Symphonie Nr. 2 C-Dur op. 61“. Seine C-Dur-Symphonie komponierte Robert Schumann ab dem Dezember 1845 in Dresden am Ende einer Phase schlechten Gesundheitszustands. Dazu betrübte ihn noch immer der Misserfolg der d-Moll „Sinfonietta“, die er fast unmittelbar nach der erfolgreichen Frühlingssymphonie erschaffen und im Leipziger Gewandhaus dem Publikum erfolglos vorgestellt hatte. Er änderte nach einem intensiven Studium des Kontrapunkts seine Kompositionsstrategie und beschäftigte sich intensiv mit der Polyphonie Johann Sebastian Bachs (1685-1750). Der Einfluss Bachs und die Aufarbeitung seiner Erkrankungen führten bei Schumann zu einem intensiven Arbeiten, das an Besessenheit grenzte an einem „Allegro non troppo“ für eine C-Dur-Symphonie. Mit der Vollendung der Komposition des C-Dur-Werkes fühlte sich Schumann therapiert und schickte im Oktober 1846 die Partitur an Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) nach Leipzig. Der präsentierte das Werk, gespielt von maulenden Musikern, gegen Ende eines langen Konzertes, am 5. November im Gewandhaus einem übermüdeten Publikum. Den großen Erfolg brachte der Komposition deshalb erst zehn Tage später eine mit leichten Korrekturen versehene Aufführung.
Nach dem Düsseldorfer Durchbruch der Rheinischen-Es-Dur Symphonie hatte sich Schumann den Dresdner Fötus der „Sinfonietta“ aus dem Jahre 1841 noch einmal vorgenommen. Er veränderte die Instrumentierung der Ecksätze und verstärkte mit zusätzlich tiefen Streicher- sowie Bläseraufgaben den dämonischen Charakter der Komposition zu seiner nunmehr „4. Symphonie d-Moll op. 120“. Folglich erhielt die C-Dur-Arbeit von 1845/46 den Rang der „2. Symphonie op. 61“ in der Reihe der Schumann-Werke. Für viele Verehrer des Komponisten gilt sie als dessen Sieg über den Schatten Beethovens.
Daniele Gatti gestaltete mit der Sächsischen Staatskapelle die Darbietung der „2. Symphonie op. 61“ zu einer Veranschaulichung der Entwicklung der Therapie des Komponisten. Mit einer prägnanten, kraftvollen Interpretation demonstrierte Gatti seine persönliche Affinität zum romantischen Komponisten, indem er die oft betonte Schwere in Schumanns Arbeiten abmilderte. Mit schillernder Farbigkeit, Leichtigkeit und verblüffender Klarheit, aber auch angemessenem Temperament, alles in schönster Ausgewogenheit, gelang es Gatti, dem Inhalt, Charakter und der klanglichen Schönheit des Werkes nachzuspüren. Jedem Detail im Gesamtgefüge schenkte er Beachtung, brachte oft weniger beachtete Seiten zum Klingen und gestaltete die im Laufe der Jahrzehnte oft gehörte Symphonie auf besondere Art erlebbar.
Trompetenrufe eröffneten die Symphonie und erregten die Aufmerksamkeit der Hörer. In mäßiger Feierlichkeit gestalteten in der Folge Blechbläser, Streicher und Holzbläser einen bezaubernden Bach-Choral, bevor die Klanggestaltung. durch Einsatz der Streicher, der Pauken in kleinen Harmonien vertieft wurde. Daniele Gatti legte umgehend Wert auf Dynamik, Klarheit und Orchestertransparenz. Mit Eindringlichkeit und variablen Tempi schuf er mit kleinen Nuancen den perfekten Fortgang und Abschluss des ersten Satzes.
Das Scherzo, das hier etwas ungewohnt an zweiter Stelle steht, bestach durch seine gelockerte Orchestervirtuosität, so dass aus „Allegro vivace“ eigentlich ein „Allegro molto vivace“ geworden war. Die Violinen leisteten bei den eiligen Passagen des Scherzos hervorragendes, während in der Mitte die Triolen-Übergänge vom ersten zum zweiten eher meditativen Trio subtiler gegenüberstanden. Begeisternd, mit welchem Charme und Eleganz das Orchester das zweiten Trio gaben. Die abschließende Temposteigerung, der Wettlauf zum Satzende waren mit ihrer tadellosen Umsetzung der Musiker der Staatskapelle ein elektrisierendes Erlebnis.
Das Adagio wurde von Daniele Gatti ohne Pathos mit einer langen lyrischen Streicher-Einleitung, unterstützt durch wunderbare Holzbläsersolos, angegangen. Unendliche Horizonte wurden von der Oboe, der Flöte und der Klarinette beschrieben. Es war beeindruckend, wie Gatti die ineinander verwobenen Themen des Komponisten kontrollierte. Er entlockte der Staatskapelle eine Bandbreite von Texturen und Klangfarben ´mit einigen wohlüberlegten Klangschichten.
Daniele Gattis sensibles Dirigat ermöglichte der Staatskapelle, von der traurigen Elegie zur Hochromantik des Schlussteils überzugehen. Im abschließenden Allegro, dem Beethoven am nächstem der vier Sätze, folgten Episoden von Streicher-Lyrik, Blechbläser- und Pauken-Dramatik mit rhythmischer und lebhafter Dynamik aufeinander. Für ein leuchtendes Finale und krönenden Abschluss des Konzertes hatte Gatti die Energie aufgehoben, um eine begeisternde, effektvolle Musik bis zum letzten Akkord hin steigern zu können.
Nach den Abendkonzerten beginnt am Mittwoch die erste Novembertournee der Staatskapelle Dresden mit Daniele Gatti und Frank Peter Zimmermann mit dem identischen oder gering abgewandelten Programm. Stationen der Tournee sind München, Wien, Budapest, Luxemburg, Luzern und Amsterdam.
Thomas Thielemann, 11. November 2024
Kaija Saariaho: „Ciel d’hiver“
Robert Schumann: Violinkonzert d-Moll op. Posth.
Robert Schumann: Symphonie Nr. 2 C-Dur op. 61
Matinee 3. Symphoniekonzertes
Semperoper Dresden
10. November 2024
Solist: Frank Peter Zimmermann, Violine
Dirigent: Daniele Gatti
Sächsische Staatskapelle Dresden