
Wenn der Zirkus träumt, malt er mit Farben und Licht
Man kann über den Zirkus des 21. Jahrhunderts streiten. Über Tiere, über Plastik, über Sensationen. Oder man besucht Roncalli. Dann verstummen alle Diskussionen – zumindest für zweieinhalb Stunden. Was sich aktuell im nostalgisch anmutenden Chapiteau auf dem Frankfurter Festplatz am Ratsweg vollzieht, ist kein Spektakel. Es ist ein leiser, ästhetischer Widerstand gegen die Reizüberflutung der Gegenwart. Und eine Liebeserklärung an die Kunst.
Mit „ARTistART“ schlägt der von Bernhard Paul gegründete Circus Roncalli eine Brücke zwischen Manege und bildender Kunst. Zwischen Chagall und Chapiteau, Picasso und Pirouette. Der Zirkus imaginiert sich neu – als flüchtige Galerie aus Artisten, Farbe und Musik. Und lädt sein Publikum ein zu einem Spaziergang durch bewegte Bilder, gezeichnet von Körpern, Licht und Stille.
Schon der Auftakt ist ein Manifest: kein Vorhang, kein Tusch, sondern ein tastender Beginn mit Schatten, Musik und einem Clown, der wie ein poetischer Hofnarr erscheint: Gensi. Was folgt, ist kein Nummernprogramm, sondern ein sorgfältig kuratiertes Gesamtkunstwerk. Die Manege ist kein Ort der Vorführung, sondern ein poetisches Feld, auf dem Zitate aus der Kunstgeschichte in den Raum gezeichnet werden.
Die Luftartistin Alisa Shelter tritt mit einem Stil auf, der unverkennbar an die Ästhetik Frida Kahlos erinnert – kraftvoll, sinnlich und kunstvoll inszeniert. Professor Wacko wirbelt in seiner irrwitzigen Trampolin-Nummer über die Bühne und wirkt dabei wie eine lebendige Hommage an Henri de Toulouse-Lautrec. Schlangenmensch Andrey Romanovski schlängelt sich unterdessen durch eine schmale weiße Röhre, die mit bunten, tanzenden Figuren im Stil Keith Harings bemalt ist – eine visuelle Fusion aus Körperkunst und Pop-Art.
Besonders berührt haben mich insbesondere: Illusionistin Alexandra Saabel, die das Publikum in ihrer Show in eine magische Welt entführt. Sie bringt nicht nur Kinderaugen zum Leuchten, sondern bringt auch uns Erwachsenen ein Stück Kindheit zurück.

Im für Artisten recht fortgeschrittenen Alter zeigt Professor Wacko eine einzigartige Slapstick-Nummer – unter, über und in einem Trampolin. In vielen Ländern hat er bereits Menschen zum Lachen gebracht, als er 2015 nach seinem Auftritt bei der englischen Talentshow „Britain‘s Got Talent“ über Nacht zum Medienstar wurde.
Die Artistenformation Adem Crew beeindruckt mit innovativen Tanzchoreografien, die sich durch Präzision, Synchronität und enormer Körperbeherrschung auszeichnen. Ihr prominentestes Mitglied, Atai Omurzakov, ist ein weltberühmter Robotertänzer, der zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat, darunter den Sieg bei der tschechoslowakischen Ausgabe von „Got Talent“ und den ersten Platz beim jährlichen Talentwettbewerb „Your Oscar“ in Peking. Vier Performer liefern in roboterhafter Breakdance-Ästhetik eine temporeiche Szene, in der drei zum Leben erwachte Statuen einem nächtlichen Dieb das Handwerk legen – eine verspielte Hommage an das Thema „Nachts im Museum“.
Eindrucksvoll gerät auch die Szene einer schmelzenden Uhrenlandschaft à la Salvador Dalí: Während im Hintergrund „Time After Time“ erklingt, verbiegt Lili Paul-Roncalli mit anmutiger Präzision ihren Körper, als wolle sie die Zeit selbst aus den Fugen heben. Sie wird als Special Guest beworben und hat als ehemalige Siegerin der Show „Let’s Dance“, Model (unter anderem für Lascana) und Influencerin sicher zum guten Verkauf der Show beigetragen haben. Sie wirkt dabei nicht wie ein Medienstar sondern ist Teil eines Weltklasse-Ensembles.
Und dann die weiteren Clowns: Canutito Jr., Matute – sie lachen nicht über uns, sie weinen mit uns. Ihre Komik ist zart, leise, absichtsvoll. Kein Klamauk, keine Peinlichkeit. Sondern echte, ehrliche Menschlichkeit. Vielleicht ist das die wahre Sensation.
Begleitet und getragen wird die Show vom Roncalli Royal Orchestra unter der versierten Leitung von Georg Pommer. Die Musik ist mehr als bloße Begleitung. Sie atmet. Sie trägt. Von melancholischen Akkordeonmotiven bis zu barockem Pathos verleiht sie dem Abend eine klangliche Dramaturgie, die in deutschen Zirkuszelten ihresgleichen sucht. Dazu tanzt dasdie Artistenauftritte verbindende Tanzensemble Roncalli Ballett Choreographien von Christoph Jonas. Lina Posada liefert vokale Highlights, ihre Stimme verliert sich aber hin und wieder hinter der Instrumentalbegleitung.
Roncalli bleibt seiner Linie treu: kein Tier betritt die Manege, keine Plastikverpackung das Gelände. Stattdessen gibt es Lichtillusionen, Hologramme und echtes Holz. Der Zirkus ist längst in der Gegenwart angekommen – und entführt dennoch in vergangene Epochen. „ARTistART“ ist ein Programm, das weniger laut fragt als still antwortet. Ein Ort, an dem Kinder staunen, Erwachsene innehalten und das Bild des Zirkus sich für einen Moment neu zeichnet – irgendwo zwischen Frida Kahlo und Federico Fellini.

Wer Kultur nicht nur konsumieren, sondern fühlen will, sollte hingehen. Nicht wegen der Nummern. Sondern wegen der sie verbindenden ganz eigenen Momente.
Von meinem Platz in der zweiten Reihe der Galerie aus fällt es nicht ganz leicht, eins zu werden mit diesem Gesamtkunstwerk. Der Blick ist teils eingeschränkt, und an einem heißen Sommertag ist es dort oben spürbar wärmer als alles, was ich aus dem Bayreuther Festspielhaus kenne. Die Plätze in der allerletzten Reihe – mit eigenem Zugang – laden bei solchen Temperaturen geradezu dazu ein, während der Vorstellung kurz frische Luft zu schnappen oder sich im Foyer ein Getränk zu holen. Mein persönliches Erleben war bei diesem Besuch weniger intensiv als im Jahr 2022, als ich das Geschehen aus der ersten Reihe miterleben durfte. Trotz dieser kleinen Herausforderungen bleibt das Erlebnis unvergesslich.
Marc Rohde, 22. Juni 2025
ARTistART
Circus-Theater Roncalli von Bernhard Paul
Premiere in Frankfurt am 6. Juni 2025
Besuchte Aufführung: 19. Juni 2025 um 15:00 Uhr
Weitere Informationen: https://www.roncalli.de