Es weht ein Hauch aus einer Mischung von Brokeback Montain und Dune über die Bühne des Theaters St.Gallen für diese Neuproduktion von Bellinis Oper (Koproduktion mit der Opéra national de Nancy-Lorraine, dem Theater Magdeburg und Opera Ballet Vlaanderen).

Erschaffen haben diese ästhetisch beeindruckende, aber auch leicht verstörende dystopische Welt, in welcher die Regisseurin Pınar Karabulut (seit dieser Spielzeit Co-Intendantin am Schauspielhaus Zürich) die unsterbliche Liebesgeschichte von Romeo und Julia spielen lässt, die Bühnenbildnerin Michela Flück, die Kostümbildnerin Teresa Vergho und die Lichtdesigner Bernd Purkrabek und Philip Deblitz. Bewohnt wird diese westernartige Einöde von wie geklont wirkenden, blau gekleideten Cowboys (es der Clan der Capuleti, alles Männer) und identisch, jedoch in Rot gekleideten Frauen (der Clan der Montecchi). Die Liebesgeschichte spielt sich also nicht innerhalb einer Fehde zwischen verfeindeten Familien ab, sondern die Liebenden befinden sich mitten im Strudel eines Geschlechterkampfs zwischen Männern und Frauen.
Die Männer wollen „ihre“ Giulietta mit einem weiteren Klon (Tebaldo) verehelichen und so wohl ihr Patriarchat fortführen und festigen. In der Sippe der roten Cowboys, also den Frauen, ist Romeo herangewachsen – doch er ist ein Androgyner, eine Transperson vielleicht, jedenfalls mit deutlich weiblichen Zügen ausgestattet. Bellini hatte die Rolle ja auch für eine Frauenstimme komponiert, somit kann man sich dieses universelle Drama der Liebe auch in verschiedenen Konstellationen vorstellen, zwischen Frauen, zwischen Männern (eben wie in Brokeback Montain, Mann/Frau, Transgender/Frau usw. Dagegen ist nichts einzuwenden, ja es ist sogar in der heutigen Zeit gut, die Vielfalt menschlicher Bedürfnisse auch auf der Bühne zu zeigen. Pınar Karabulut tut dies streckenweise meines Erachtens etwas zu stilisiert. So wirkt die Bewegungschoreografie des Männerchors (Bellini hat keine Frauenstimmen im Chor eingesetzt) zum Beispiel leicht lächerlich in ihrer synchronen Steifheit (und auch Verklemmtheit, denn diese frauenfeindlichen blauen Männer finden sich in einem verschämten Tanz zu Paaren …). Aber die Inszenierung hat auch sehr viele ausgesprochen intime und poetische Momente zu bieten, so im langsamen Teil der Ouvertüre, wo man Romeo und Giulietta auf dem zentralen Bühnenelement (auf einem liegengebliebenen Rad eines Planwagens) im expliziten Liebesspiel vor dem Prospekt eines wilden Canyons mit üppig wuchernder Vegetation beobachten kann. Dieses Rad, dass sich später als Landeplatz eines UFOs anbietet, mit einer Auspuffröhre, die sich exakt auf die Radnabe setzt (sexuell konnotiert?), ist der Rückzugsort der Liebenden, ihr „safe space“ – und hier dreht sich die scheintote Giulietta gegen Ende des zweiten Aktes auch gleich einer Wachsfigur im Kreise. Und dann sind da noch die Pferde, lebensecht wirkend (ausser dass sie kleine, fast unsichtbare Rollen in den Hufen haben), und natürlich sind die roten Frauen diesen Tieren zärtlicher zugewandt als die blauen Männer. Da wird das Klischee der Frau als Pferdenärrin zelebriert. Romeo und Giulietta tragen beide ein weisses, mit roten Blumen bedrucktes Kleid, bei Giulietta wird es durch ein blaues Röckchen mit Bustier teilweise verdeckt, bei Romeo durch den rot-samtenen Hosenanzug. Beide tragen lange, schwarze Haare. Interessant ist auch das Kostüm des Arztes Lorenzo (bei Bellini ist er kein Geistlicher wie bei Shakespeare): Unter dem Mantel im Stil der Italowestern-Filme ist ein rot-blau kariertes Dominokostüm sichtbar – ein Diener zweier Herren. Eher unvorteilhaft gekleidet ist Capellio, der Vater Giuliettas und Anführer des blauen Männer-Clans: Die aufgeplusterten Hosen, das enge Wams und der Indio-Bowler-Hut sind wirklich nicht sehr kleidsam. Tebaldo wirkt auch sehr „weich“ in seinem blauen, samtenen Sonntagsanzug und lässt sich im zweiten Akt denn auch praktisch kampflos von Romeo mit einer roten Plastikpistole erschießen. Ausgesprochen gut gefallen hat mir das Lichtdesign der Produktion: Die Morgenstimmung, die Abenddämmerung mit dem serbelnden Joshua Tree, die blaue Nacht. Passend dazu wechseln auch die Leuchtröhren der Bühnenumrandung ihre Farbe. Oben ist die Röhre allerdings gerissen. So ragen die beiden abgerissenen Teile dekorativ von links und rechts in den Raum.

Wenn man auch mit der Inszenierung zuerst in gewissen Momenten etwas fremdelt, sich ab und an etwas mehr Action und weniger Steifheit gewünscht hätte, so kann man doch das Bemühen des Inszenierungsteams loben, dem Publikum Perspektivwechsel auf diese zu Recht unsterbliche Liebesgeschichte zu ermöglichen.
Die ruhige szenische Herangehensweise hat aber auch den Vorteil, dass man sich ganz auf die belcantistische Seite des Werks konzentrieren kann. Das Sinfonieorchester St.Gallen unter der Leitung von Michael Balke beglückt mit einer fein ausgehorchten Lesart von Bellinis Partitur. Die unendlich schönen Melodien Bellinis, die voller Anmut gespielten Kantilenen der Holzbläser, der Hörner, der Streicher und die Arpeggien der Harfe entfalten Stimmungen des Glücks, der Sehnsucht, der Trauer – eben aller Aspekte der Liebe, in die man gerne während zweier Stunden versinkt. Die Tempi sind allesamt stimmig, nie überhastet, aber auch nicht überdehnt, wunderbar mitatmend und den Puls der Musik aufgreifend. Die Partien der fünf Solist*innen sind ganz vorzüglich besetzt: Jennifer Panara singt einen jugendlich-leidenschaftlichen Romeo, ausdrucksstark, mit hervorragend disponierter Mezzosopranstimme, Kraft gepaart mit Sensibilität. Kali Hardwick vermag mit ihrem leuchtenden, leicht und sauber ansprechenden Sopran (und superben Piani!) die diversen Emotionen der Giulietta zu transportieren und uns damit zu rühren. Wenn die beiden Stimmen miteinander in den Duetten verschmelzen, ist höchstes Belcanto-Glück garantiert. Omer Mancini gestaltet die Tenorrolle des Tebaldo vorzüglich. Mit stilsicherem Legato und ohne schluchzendes Forcieren erreicht er die fordernden Höhen und schliesst die Caballetta L’amo tanto mit sicherem Acuto! Jonas Jud ist der mit markantem Bass singende Capellio und Riccardo Botta verleiht dem wendigen Lorenzo mit seiner prägnanten Tenorstimme Profil. Bellini hat den beiden leider keine richtige Arie zugestanden. Klangstark singt der von Filip Paluchowski einstudierte Herrenchor des Theaters St.Gallen.

Am Ende, wenn sich der Zwischenvorhang mit den wie aus Brettern genagelten Schriftzügen der beiden Clans senkt (wobei Montecchi rückwärts geschrieben steht), sieht man nur noch das unglückliche Liebespaar vor dem Vorhang. Der tote Romeo ruht in Giuliettas Schoss und sie blickt mit entsetztem, starrem Ausdruck anklagend ins Publikum. Dieses Bild geht wahrlich unter die Haut!
Kaspar Sannemann 15. September 2025
I Capuleti e i Montecchi
Vincenzo Bellini
Theater St. Gallen
13. September 2025
Regisseurin: Pınar Karabulut
Dirigat: Michael Balke
Sinfonieorchester St.Gallen